Vor dem Frost
Vorhängeschloß und machte Licht. Sofort fühlte sie sich wieder dumm. Ich lasse Anna verschwinden, um etwas zu tun zu haben, dachte sie. In dem Moment, in dem ich diese Uniform anziehen werde und anfangen kann zu arbeiten, wird Anna wieder auftauchen. Es ist ein Spiel. Natürlich ist nichts passiert. Sie hob ein paar Flickenteppiche an, die auf dem Tisch lagen. Darunter waren einige verstaubte Zeitschriften. Sie legte die Teppiche wieder zurück, schloß ab und ging zurück in die Wohnung.
Diesmal ließ sie das Teewasser richtig kochen. Sie nahm die Tasse mit in Annas Schlafzimmer und legte sich auf die Seite des Doppelbetts, die nicht Annas war. Sie hatte schon einmal dort gelegen. Anna und sie hatten bis in die Nacht geredet und Wein getrunken, und sie hatte nicht mehr nach Hause gehen können. Da hatte sie hier geschlafen, unruhig, weil Anna sich heftig im Schlaf gewälzt und ständig umgedreht hatte. Linda stellte die Tasse ab und streckte sich aus. Kurz darauf war sie eingeschlafen.
Als sie erwachte, wußte sie im ersten Moment nicht, wo sie war. Sie sah auf die Uhr. Sie hatte eine Stunde geschlafen. Der Tee war kalt geworden. Sie trank ihn dennoch, da sie durstig war. Dann stand sie auf und glättete den Bettüberwurf.
Plötzlich fühlte sie wieder, daß etwas nicht in Ordnung war.
Es dauerte eine Weile, bis ihr der Grund klar wurde. Der Bettüberwurf. Auf Annas Seite. Jemand hatte da gelegen, die Vertiefung war noch zu sehen. Und hatte ihn nachher nicht geglättet. Das paßte ganz und gar nicht zu Anna, die, was Ordnung anging, strenge Disziplin hielt. Ein Tisch mit Brotkrümeln oder ein nicht geglätteter Bettüberwurf waren bei ihr eine Unmöglichkeit, eine Niederlage in ihrem Leben.
Einer Eingebung folgend, hob Linda den Bettüberwurf an. Darunter lag ein T-Shirt. Es war eine XXL-Größe, dunkelblau mit einem Werbetext für die englische Fluggesellschaft Virgin. Sie roch daran. Es war nicht Annas Duft. Es roch nach einem starken Waschmittel oder After Shave. Sie breitete das T-Shirt auf dem Bett aus. Anna schlief im Nachthemd. Sie war außerdem eigen und kaufte nur gute Qualität. Linda konnte sich nicht vorstellen, daß Anna auch nur eine einzige Nacht in einem billigen T-Shirt mit einem Werbeaufdruck für eine englische Fluggesellschaft schlafen würde.
Sie saß auf der Bettkante und betrachtete das Hemd. Auf der Polizeihochschule haben wir nicht gelernt, wie man sich zu fremden T-Shirts in den Betten verschwundener Freundinnen verhält, dachte sie. Sie fing an, darüber nachzugrübeln, was ihr Vater wohl täte. Es war vorgekommen, daß er ihr auf ihre immer anspruchsvolleren Fragen ausführlich geantwortet hatte, wenn sie in ihrer Zeit an der Polizeihochschule einmal für ein langes Wochenende bei ihm gewesen war. Er hatte von verschiedenen Ermittlungen erzählt, und sie wußte mittlerweile, daß er einen Ausgangspunkt hatte, zu dem er immer wieder zurückkehrte, den er wie ein Mantra wiederholte, wenn er eine Tatortuntersuchung vornahm. Es gibt immer etwas, was man nicht sieht, hatte er gesagt. Es gilt, das Detail zu lokalisieren, das man nicht sofort entdeckt hat. Sie sah sich im Schlafzimmer um. Was ist hier, ohne daß ich es sehe? Was mir Kummer macht, ist nicht das Unsichtbare, sondern das Sichtbare. Ein Bettüberwurf, der nicht ordentlich glattgezogen ist, ein T-Shirt an einer Stelle, wo eigentlich ein Nachthemd liegen sollte.
Draußen im Wohnzimmer klingelte das Telefon. Sie fuhr zusammen, stand auf und stellte sich neben den Anrufbeantworter. Sollte sie abnehmen? Sie streckte die Hand aus, zog sie aber wieder zurück. Nach dem fünften Klingeln schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Es war Henrietta.
Ich bin es nur. Deine Freundin Linda, die komischerweise Polizistin werden will, war gestern hier und wollte wissen, wo du dich aufhältst. Das war alles. Melde dich, wenn du Zeit hast. Hej.
Linda spielte die Nachricht noch einmal ab. Henriettas Stimme, vollkommen ruhig, keine Botschaft zwischen den Worten, keine Besorgnis, nur das Normale. Die Kritik, vielleicht Verachtung, weil ihre Tochter eine Freundin hatte, die dumm genug war, sich in eine Uniform zu kleiden. Linda spürte, daß es sie ärgerte. Vielleicht war Anna genauso? Vielleicht betrachtete sie Lindas Berufswahl mit Widerwillen oder gar Verachtung? Sie kann mir egal sein, dachte Linda. Soll sie doch verschwunden sein, soviel sie will. Sie füllte die Gießkanne in der Küche und gab den Topfpflanzen Wasser. Dann verließ sie
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