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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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um eine Vermißtenmeldung zu machen. Anna Westin ist verschwunden, und ich glaube, daß ihr etwas Ernstes zugestoßen ist.«
    Linda wußte nie im voraus, wann ihr Vater einen seiner plötzlichen und schweren Wutanfälle bekam. Sie erinnerte sich an die Angst, die sie und ihre Mutter erlebt hatten, als sie aufwuchs. Ihr Großvater hatte einfach nur mit den Schultern gezuckt oder zurückgebrüllt. Unruhig suchte sie nach Anzeichen, daß ein Wutanfall sich anbahnte. Auf seiner Stirn, zwischen den Augenbrauen, flammte ein roter Fleck auf, aber meistens erst dann, wenn der Ausbruch schon im Gange war.
    Auch an diesem Morgen, an dem Linda beschloß, Annas Verschwinden von einer privaten zu einer polizeilichen Angelegenheit zu machen, hatte sie die Reaktion, die eintrat, nicht erwartet. Ihr Vater warf einen Stapel Papierservietten auf den Fußboden. Es wirkte ein wenig komisch, weil statt des krachenden Getöses, das er beabsichtigt hatte, nur eine größere Menge Papierservietten durch die Küche flatterte. Aber Linda spürte wieder den Schrecken aus ihrer Kindheit. In einem vorüberrasenden Augenblick erinnerte sie sich an alle die Male, da sie, von kaltem Schweiß bedeckt, aus Alpträumen aufgeschreckt war, in denen ihr Vater, der gerade noch freundlich gelächelt hatte, einen plötzlichen Wutanfall bekam. Sie erinnerte sich auch an etwas, was ihre Mutter Mona gesagt hatte, als die Eltern bereits geschieden waren.
Er selbst versteht es nicht, welche Form von Terror es bedeutet, immer mit grundlosen Wutanfällen konfrontiert zu sein, wenn man am wenigsten damit rechnet. Ich glaube, er bekam diese Wutausbrüche nur zu Hause. Andere erleben ihn sicher als einen breitschultrigen, freundlichen Mann, als einen tüchtigen, wenn auch ein wenig eigensinnigen Kriminalbeamten. Wenn er auf der Arbeit brüllt, ist es berechtigt. Aber zu Hause ist er ein Wilder, ein Terrorist, den ich gefürchtet, aber auch gehaßt habe.
    Linda mußte an Monas Worte denken, als sie ihren noch immer erregten, großgewachsenen Vater betrachtete, der mit Servietten um sich warf.
    »Warum hörst du nicht auf das, was ich dir sage? Wie kannst du jemals eine gute Polizistin werden, wenn du jedesmal, wenn eine deiner Freundinnen nicht ans Telefon geht, glaubst, es sei ein Verbrechen geschehen?«
    »So ist es nicht.«
    Er warf die restlichen Servietten auf den Fußboden. Wie ein Kind, dachte Linda, das seinen Teller vom Tisch fegt, weil es nicht essen will.
    »Unterbrich mich nicht. Habt ihr denn auf der Polizeihochschule nichts gelernt?«
    »Ich habe gelernt, gewisse Dinge ernst zu nehmen. Was die anderen gelernt haben, weiß ich nicht.«
    »Du machst dich lächerlich.«
    »Dann tue ich das eben. Aber Anna ist verschwunden.«
    Des Vaters Wut war ebenso schnell verraucht, wie sie gekommen war. Auf seiner Backe waren ein paar Schweißtropfen zu sehen. Ein kurzer Wutausbruch, dachte Linda. Ungewöhnlich kurz, und auch nicht so heftig wie früher. Entweder wagt er es nicht mehr richtig bei mir, oder er wird langsam alt. Und jetzt entschuldigt er sich gleich.
    »Entschuldige bitte.«
    Linda antwortete nicht, sondern sammelte die Servietten vom Fußboden auf. Sie warf sie in den Abfalleimer und merkte erst da, daß sie Herzklopfen hatte. Vor seiner Wut wird mir immer angst und bange sein, dachte sie.
    Ihr Vater hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und sah unglücklich aus. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«
    Linda starrte ihn an, wartete aber mit dem, was sie sagen wollte, bis ihre Blicke sich trafen. »Ich kenne keinen, der so dringend jemanden zum Vögeln braucht wie du.«
    Er zuckte zusammen, als habe sie ihn geschlagen. Gleichzeitig wurde er rot.
    Linda streichelte ihm die Wange, so freundlich sie es vermochte.
    »Du weißt, daß ich recht habe. Damit es dir nicht allzu peinlich sein muß, gehe ich zu Fuß zum Präsidium. Du kannst allein fahren.«
    »Ich hatte heute selbst vor, zu Fuß zu gehen.«
    »Tu das morgen. Ich mag es nicht, wenn du so schreist. Ich will in Frieden gelassen werden.«
    Ihr Vater verließ mit hängendem Kopf die Wohnung. Linda wechselte die Bluse, weil sie geschwitzt hatte, und überlegte, ob sie trotz allem davon absehen sollte, Anna als vermißt zu melden. Sie ging aus dem Haus, ohne sich entschieden zu haben.
    Die Sonne schien, der Wind war böig. Linda blieb unten auf der Mariagata stehen, unschlüssig, was sie jetzt tun sollte. Sie pflegte sich stets ihrer Entschlußfreudigkeit zu rühmen. Aber in der Nähe ihres Vaters

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