Vor dem Frost
die Wohnung und ging nach Hause.
Als ihr Vater gegen sieben Uhr heimkam, hatte sie Essen gemacht und selbst schon gegessen. Sie wärmte ihm sein Essen auf, während er sich umzog. Als er aß, setzte sie sich zu ihm in die Küche.
»Was war denn?«
»Mit der vermißten Tante?«
»Was denn sonst?«
»Das hat der Farbenladen in die Hand genommen.«
Linda sah ihn fragend an. »Der Farbenladen?«
»Wir haben einen Kollegen namens Svartman in der Kriminalabteilung und einen, der Grönkvist heißt. Sie sind ziemlich neu hier und arbeiten oft zusammen. Schwarz und Grün, das wird in unserem internen Jargon der Farbenladen. Und daß Svartman außerdem noch mit einer Frau verheiratet ist, die Rosa heißt, macht das Bild vollkommen. Sie sollen versuchen herauszufinden, wohin Birgitta Medberg verschwunden sein kann. Nyberg wollte sich ihre Wohnung ansehen. Wir sind zu der Ansicht gelangt, daß die Angelegenheit ernst zu nehmen ist. Dann werden wir ja sehen.«
»Was glaubst du?«
Er schob den Teller von sich. »Etwas an der Sache ist beunruhigend. Aber ich kann mich ja irren.«
»Was genau beunruhigt dich?«
»Gewisse Menschen verschwinden ganz einfach nicht. Tun sie es trotzdem, ist etwas passiert. Ich nehme an, daß da meine Erfahrung spricht.«
Er erhob sich vom Tisch und setzte Kaffeewasser auf. »Vor bald zwanzig Jahren verschwand eine Immobilienmaklerin. Daran müßtest du dich erinnern. Aber vielleicht weißt du nicht, daß sie fromm war, einer freikirchlichen Gemeinde angehörte, kleine Kinder hatte. Da war mir sofort klar, daß etwas passiert war, als der Ehemann zu mir kam und sie als vermißt meldete. Sie war ermordet worden.«
»Birgitta Medberg ist Witwe, sie hat keine kleinen Kinder und gehört kaum einer Kirche an. Kannst du dir diese fette Tochter als religiös vorstellen?«
»Ich kann mir jeden Menschen als religiös vorstellen. Dich auch. Aber darum geht es nicht. Ich rede vom Unerwarteten, dem, was man nicht richtig greifen kann.«
Linda erzählte von ihrem erneuten Besuch in Annas Wohnung. Sie erzählte ausführlich, und ihr Vater betrachtete sie mit einem Gesichtsausdruck, der wachsende Mißbilligung erkennen ließ.
»Du solltest dich nicht damit abgeben«, sagte er, nachdem sie geendet hatte. »Wenn etwas passiert ist, ist das Sache der Polizei und des Staatsanwalts.«
»Ich bin doch Polizistin.«
»Du bist Polizeianwärterin und sollst bei der Ordnungspolizei anfangen und dafür sorgen, daß es auf Straßen und Plätzen und in den schönen kleinen Dörfern Schonens einigermaßen ruhig ist.«
»Ich finde es aber sehr sonderbar, daß sie nicht da ist.«
Kurt Wallander stellte seinen Teller und die Tasse in die Spüle. »Wenn du tatsächlich meinst, daß etwas passiert ist, schlage ich vor, daß du es der Polizei meldest.«
Er verließ die Küche. Der Fernseher ging an. Linda blieb sitzen. Seine Ironie ärgerte sie. Besonders, weil er natürlich recht hatte.
Sie blieb in der Küche sitzen und muffelte, bis sie sich wieder in der Lage fühlte, ihrem Vater gegenüberzutreten. Er saß im Wohnzimmer und war in seinem Sessel eingeschlafen. Als er anfing zu schnarchen, stieß Linda ihn in die Seite.
Er zuckte zusammen und hob die Hände, als sei er überfallen worden. Genau wie ich es getan hätte, dachte sie. Das ist eine weitere Gemeinsamkeit zwischen uns. Er verschwand im Badezimmer und ging danach ins Bett. Linda sah noch einen Film an, ohne sich wirklich konzentrieren zu können. Kurz vor Mitternacht ging sie schlafen. Sie träumte von Herman Mboya, der nach Kenia zurückgegangen war und in Nairobi eine eigene Praxis aufgemacht hatte.
Sie wurde von ihrem Handy geweckt. Es lag neben der Nachttischlampe und vibrierte. Sie meldete sich und schaute gleichzeitig auf die Uhr. Es war nach drei. Niemand sagte etwas. Sie hörte nur Atemzüge. Dann wurde aufgelegt. Linda war sicher. Wer auch angerufen hatte, es hatte mit Anna zu tun. Sie hatte eine wortlose Mitteilung erhalten, nur ein paar Atemzüge. Aber die Mitteilung war wichtig.
Linda schlief nicht wieder ein. Um Viertel nach sechs stand ihr Vater auf. Sie ließ ihn in Ruhe duschen und sich ankleiden. Als er sich in der Küche zu schaffen machte, ging sie zu ihm. Er war erstaunt, sie schon fix und fertig angezogen zu sehen.
»Ich fahre mit dir ins Präsidium.«
»Warum?«
»Ich habe nachgedacht über das, was du gestern gesagt hast. Daß ich die Polizei einschalten sollte, wenn ich mir Sorgen mache. Und das will ich tun. Ich gehe mit dir,
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