Vor dem Frost
sie es. Ein kleines Glasbild mit einem aufgespießten blauen Schmetterling hatte an einer der Seitenwände gehangen, zwischen einem Kunstposter aus Berlin und einem alten Barometer. Jetzt war das Schmetterlingsbild fort. Linda schüttelte den Kopf. Bildete sie sich etwas ein? Nein, es war fort. In ihrer Erinnerung war es noch da, als sie beim letztenmal in der Wohnung war. Konnte Henrietta dagewesen sein und es mitgenommen haben? Das kam ihr unwahrscheinlich vor. Sie zog die Jacke aus und ging langsam durch die Wohnung.
Erst als sie die Türen von Annas Kleiderschrank öffnete, war sie wirklich überzeugt, daß jemand in der Wohnung gewesen sein mußte. Es fehlten Kleidungsstücke und vielleicht auch eine Tasche. Linda wußte es, weil bei Anna die Kleiderschranktüren meistens offenstanden. Ein paar Tage vor Annas Verschwinden war Linda in Annas Schlafzimmer gewesen, um ein Telefonbuch zu holen, als sie einen Augenblick allein in der Wohnung war. Sie setzte sich aufs Bett und versuchte nachzudenken. Dann sah sie das Tagebuch, das auf dem Schreibtisch lag. Das Tagebuch ist noch da, dachte sie. Und das ist falsch. Richtiger gesagt: Es bedeutet, daß es nicht Anna sein kann, die hiergewesen ist. Sie kann Kleider geholt haben, sie kann sogar den blauen Schmetterling mitgenommen haben. Aber sie würde nie ihr Tagebuch zurücklassen. Nie im Leben.
Linda versuchte sich vorzustellen, was geschehen war. Sie befand sich in einem leeren Raum, durch die Tür einzutreten war, wie einen Wasserspiegel zu durchschneiden und in eine vollkommen stille und fremde Landschaft hinabzusinken. Sie rief sich Gelerntes in Erinnerung. Es gab immer Spuren an Orten, an denen sich etwas Dramatisches abgespielt hatte. Aber hatte das, was geschehen war, überhaupt etwas mit Dramatik zu tun?
Es fanden sich keine Blutflecke, keine Verwüstung, alles war so ordentlich wie immer. Abgesehen davon, daß ein kleines Schmetterlingsbild und eine Tasche sowie einige Kleidungsstücke verschwunden waren. Dennoch sollten Spuren dasein. Selbst wenn es trotz allem Anna war, die sich zwischenzeitlich in die Wohnung begeben hatte, mußte sie sich in ihrer eigenen Wohnung wie ein ungebetener Gast verhalten haben.
Linda ging langsam die Wohnung ein weiteres Mal durch, ohne etwas zu bemerken. Nichts war verändert, nichts fehlte. Dann hörte sie den Anrufbeantworter ab, dessen Blinken verriet, daß neue Nachrichten vorlagen. Drei Anrufe wurden angezeigt. Wir geben unsere Stimmen von uns, dachte Linda. Wir verstreuen sie auf Hunderte von Anrufbeantwortern in der ganzen Welt. Zahnarzt Sivertsson wollte den Termin für die jährliche Kontrolle ändern und bat um Rückruf bei der Sprechstundenhilfe. Eine Frau namens Mirre rief aus Lund an und wollte wissen, ob Anna mit nach Bästad käme oder nicht. Und zuletzt Linda selbst, ihr Hallo und das Klicken, als sie wieder auflegte.
Auf dem Tisch lag ein Adreßbuch. Linda suchte den Zahnarzt Sivertsson und wählte die Nummer.
»Zahnarztpraxis Sivertsson.«
»Ich heiße Linda Wallander. Ich habe Anna Westin versprochen, mich um ihre Anrufe zu kümmern. Sie ist ein paar Tage verreist. Ich wollte nur wissen, an welchem Tag und zu welcher Uhrzeit sie kommen sollte.«
Nach einem Moment kam die Zahnarzthelferin zurück ans Telefon. »Am 10. September um neun Uhr.«
Linda beendete das Gespräch und suchte nach der Nummer der Frau, die Mirre hieß. Sie dachte an ihr eigenes vollgekritzeltes Adreßbuch, das sie immer wieder zusammenkleben mußte. Irgend etwas hielt sie davon ab, ein neues zu kaufen. Es war wie ein Erinnerungsalbum. All diese durchgestrichenen Telefonnummern, die nirgendwo mehr hinführten, Telefonnummern, die in Frieden auf einem höchst privaten Friedhof ruhten. Für ein paar Minuten vergaß sie alles, was mit Anna zu tun hatte, und kehrte statt dessen zu dem Augenblick im Wald zurück, zu ihrem Vater und seinen Bäumen. Sie empfand eine Zärtlichkeit für ihn, als ahnte sie, wie er als Kind gewesen war. Ein kleiner Junge mit großen Gedanken, allzu großen vielleicht zuweilen. Ich weiß viel zu wenig über ihn. Was ich zu wissen glaube, erweist sich außerdem häufig als falsch. Das sagt er immer, aber ich sage es auch. Ich habe ihn mir immer als einen freundlichen Mann vorgestellt, nicht besonders scharfsinnig, aber beharrlich und mit großen intuitiven Fähigkeiten. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Ich glaube, daß er ein guter Polizist ist. Aber ich vermute, er ist ein zutiefst sentimentaler Mensch, der
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