Vor dem Frost
konnte die Entschlossenheit sie verlassen. Grimmig dachte sie, daß sie dringend die Wohnung bekommen mußte, auf die sie wartete, in einem der Häuser gleich hinter der Mariakirche. Sie konnte nicht endlos bei ihrem Vater wohnen.
Sie zweifelte jetzt nicht mehr, sondern ging zum Polizeipräsidium. Wenn Anna etwas zugestoßen war, würde sie es sich nie verzeihen, ihren Verdacht beiseite geschoben und keine polizeiliche Meldung erstattet zu haben. Dann wäre ihre Karriere bei der Polizei zu Ende, bevor sie überhaupt angefangen hatte.
Ihr Weg führte sie am Folkpark vorbei. Als sie klein war, hatte sie ihn einmal zusammen mit ihrem Vater besucht. Es war ein Sonntag, vielleicht im Frühsommer, und sie hatten einem Zauberer zugeschaut, der Goldmünzen aus den Ohren der versammelten Kinder zog. Aber das Bild wurde getrübt durch etwas, was vorher geschehen war. In dem Punkt war ihre Erinnerung vollkommen klar. Sie war in ihrem Zimmer davon aufgewacht, daß ihre Eltern sich stritten. Die Stimmen waren laut und wieder leiser geworden, sie hörte, daß die beiden um Geld stritten, das fehlte, das verschwendet worden war. Plötzlich hatte Mona aufgeschrien und angefangen zu weinen. Als Linda aus dem Bett tappte und vorsichtig die Tür zum Wohnzimmer aufschob, sah sie, daß ihre Mutter aus der Nase blutete. Ihr Vater stand mit glühendrotem Kopf am Fenster. Sie hatte sogleich begriffen, daß er ihre Mutter geschlagen hatte. Nur wegen dieses Geldes, das nicht mehr da war.
Sie hielt auf dem Bürgersteig inne und blinzelte in die Sonne. Die Erinnerung verursachte ihr einen Kloß im Hals. Sie hatte dort am Türspalt gestanden und ihre Eltern angesehen und gedacht, nur sie könnte das Problem lösen. Sie wollte nicht, daß Mona Nasenbluten hatte. Sie ging zurück in ihr Zimmer und holte ihre Spardose. Dann ging sie ins Wohnzimmer und stellte sie auf den Tisch. Es war vollkommen still gewesen. Eine einsame Wüstenwanderung mit einer kleinen Spardose in der Hand.
Sie blinzelte wieder in die Sonne, konnte aber die Tränen nicht zurückhalten. Sie rieb sich die Augen und drehte sich um, als wollte sie die Erinnerung auf Abwege führen. Sie bog in die Industriegata ein und beschloß, doch noch einen Tag zu warten, bevor sie Anna als vermißt meldete, und statt dessen wieder in ihre Wohnung zu gehen. Noch einmal, dachte sie. Wenn seit gestern abend jemand dagewesen ist, werde ich es merken. Sie klingelte an der Wohnungstür. Nichts. Nachdem sie geöffnet hatte, stand sie wiederum unter Hochspannung im Flur. Ihre Augen wanderten, alle ihre inneren Antennen waren ausgefahren. Aber es gab keine Spur. Nichts.
Sie ging weiter ins Wohnzimmer. Die Post, dachte sie. Auch wenn Anna nie Briefe oder Karten schrieb, müßte etwas durch ihren Briefschlitz geworfen worden sein. Reklame, Gemeindemitteilungen, irgend etwas. Aber hier ist nichts.
Sie ging durch die Wohnung. Das Bett war so, wie sie es am Tag zuvor verlassen hatte. Sie setzte sich ins Wohnzimmer und ging in Gedanken noch einmal alles durch. Anna war jetzt seit drei Tagen weg. Wenn man es so nennen konnte.
Ärgerlich schüttelte Linda den Kopf und ging zurück ins Schlafzimmer. Sie nahm das angefangene Tagebuch vom Schreibtisch, betete stumm um Sündenvergebung und blätterte dreißig Tage zurück. Nichts. Das Bemerkenswerteste war, daß Anna am 7. und 8. August Zahnschmerzen hatte und bei Zahnarzt Sivertsson war. Linda dachte über die Tage nach und runzelte die Stirn. Am 8. August hatten sie, Zebra und Anna, einen langen Spaziergang bei Käseberga gemacht. Sie waren in Annas Wagen gefahren, Zebras Junge war ausnahmsweise richtig pflegeleicht, und sie hatten sich dabei abgewechselt, ihn zu tragen, wenn er nicht mehr laufen konnte.
Aber Zahnschmerzen?
Von neuem hatte Linda das Gefühl, daß es in Annas Tagebuch Dinge gab, die seltsam waren, als handelte es sich um eine chiffrierte Sprache. Aber warum? Was kann eine Notiz über Zahnschmerzen anderes bedeuten als eben Zahnschmerzen?
Sie las weiter und versuchte, Unterschiede in der Schrift festzustellen. Anna wechselte ständig den Stift, häufig mitten in einer Zeile. Linda vermutete, daß sie unterbrochen worden war, vielleicht von einem Anruf, und dann den Stift nicht wiederfand, den sie auf dem Weg zum Telefon irgendwo vergessen hatte. Linda legte das Tagebuch ab, ging in die Küche und trank Wasser.
Sie stellte das Glas zurück und ging wieder zum Tagebuch. Als sie umblätterte, stockte ihr der Atem. Zuerst dachte sie, es
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