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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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wahrscheinlich heimlich von der Liebe und von kleinen romantischen Begegnungen träumt und im Grunde die zumeist unbegreifliche und brutale Wirklichkeit um sich herum haßt.
    Sie zog einen Stuhl ans Fenster und begann in einem Buch zu blättern, in dem Anna gelesen hatte. Es war auf Englisch und handelte von Alexander Fleming und dem Penicillin. Sie überflog eine Seite und merkte, daß sie Schwierigkeiten hatte, den Text zu verstehen. Es erstaunte Linda, daß Anna mit dem Buch zurechtkam. Vor langer Zeit hatten sie darüber gesprochen, nach England zu fahren und ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Vielleicht hatte Anna diesen Traum verwirklicht? Linda legte das Buch über Fleming zur Seite und blätterte langsam das umfangreiche Adreßbuch durch. Die Seiten waren wie vollgeschriebene Tafeln in einer Mathematikstunde. Überall Streichungen und Verweise. Linda lächelte wehmütig, als sie ihre eigene alte Telefonnummer fand, außerdem die von zwei Freunden, die sie schon lange vergessen hatte. Wonach suche ich? dachte sie. Ich suche nach einer Spur, die Anna hinterlassen hat. Aber warum sollte sie die in ihrem Adreßbuch haben?
    Sie blätterte weiter, dann und wann von dem Gefühl gestört, unberechtigterweise in Annas geheimsten und privatesten Bereich eingedrungen zu sein. Ich bin über ihren Zaun geklettert, dachte sie. Ich tue es in guter Absicht. Aber ich fühle mich trotzdem nicht ganz wohl dabei. Verschiedene lose Zettel lagen in dem abgegriffenen Adreßbuch. Ein Zeitungsausschnitt über eine Reise zu einem Medizinmuseum in Reims, ein paar Zugfahrscheine von Ystad nach Lund und zurück.
    Linda zuckte zusammen. Auf einer Seite stand in grellem Rot das Wort »Papa«, dahinter eine neunzehnstellige Telefonnummer aus lauter Einsen und Dreien. Eine Nummer, die es nicht gibt, dachte Linda. Die Nummer einer geheimen Stadt mit einer nicht weniger geheimen Vorwahl, in der all die verschwundenen Menschen versammelt waren.
    Am liebsten hätte sie das Buch zugeschlagen. Sie hatte in Annas Leben nichts zu suchen. Aber sie machte weiter. Viele der Telefonnummern erstaunten sie. Anna hatte die Nummern des Ministerratsausschusses und der Sekretärin des Ministerpräsidenten aufgeschrieben. Was wollte Anna von ihm? Es gab auch eine Nummer eines Mannes in Madrid mit Namen Raoul. Neben die Nummer hatte Anna ein Herz gemalt, es aber später hitzig wieder durchgestrichen. Wir hätten Theorie und Praxis der Deutung von Adreßbüchern studieren sollen, dachte Linda.
    Aber nur eine Nummer interessierte Linda noch, nachdem sie das Buch durchgegangen war. »Zu Hause in Lund«, hatte Anna geschrieben. Linda zögerte eine Weile. Dann wählte sie die Nummer. Eine männliche Stimme meldete sich sofort: »Peter.«
    »Kann ich Anna sprechen?«
    »Ich seh mal nach, ob sie da ist.«
    Linda wartete. Im Hintergrund war Musik zu hören. Sie kannte das Stück, aber der Name des Sängers fiel ihr nicht ein.
    Der Mann namens Peter kam zurück. »Sie ist nicht da.«
    »Weißt du, wann sie zurückkommt?«
    »Ich weiß nicht mal, ob sie hier ist. Ich habe sie eine Zeitlang nicht gesehen. Ich frag mal nach.«
    Er verschwand, kam aber rasch zurück. »Niemand hier hat sie in den letzten Tagen gesehen.«
    Bevor Linda ihn nach der Anschrift fragen konnte, hatte er aufgelegt. Sie blieb mit dem Hörer in der Hand stehen. Keine Anna, dachte sie. Keine Sorge, nur eine sachliche Feststellung, daß sie nicht da ist. Linda fing an, sich dumm vorzukommen. Sie zog einen Vergleich zu ihrem eigenen Verhalten. Ich kann ebenfalls einfach aufbrechen. Mein ganzes Leben lang bin ich einfach aufgebrochen, ohne Bescheid zu sagen. Mehrmals war Vater drauf und dran, mich suchen zu lassen. Aber ich habe immer ein Gefühl dafür gehabt, wann es wirklich zu weit ging, und dann von mir hören lassen. Warum sollte Anna es nicht ebenso machen?
    Linda rief Zebra an und fragte, ob sie etwas von Anna gehört habe. Zebra verneinte. Anna hatte nichts von sich hören lassen. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag.
    Linda ging in die Küche und machte Tee. Während sie darauf wartete, daß das Wasser kochte, sah sie an der Wand ein paar Schlüssel. Sie wußte, zu welchen Schlössern sie paßten. Sie schaltete die Herdplatte aus und ging hinunter in den Keller. Annas mit einem Drahtgitter abgeteilter Verschlag lag am Ende des schmalen Ganges. Linda hatte Anna eines Abends geholfen, einen Tisch hinunterzutragen. Er stand noch da, wie sie durch das Gitter sah. Sie öffnete das

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