Vor dem Frost
darum ging es gar nicht. Es war das andere, daß sie aus einem Alptraum erwacht war, der ihr eigentlich die Botschaft übermittelt hatte, daß Anna nach ihr gerufen hatte.
Vorsichtig ging sie bis zur Hauswand und zu den erleuchteten Fenstern. Sie erstarrte. Hörte Stimmen. Zuerst konnte sie nicht entscheiden, woher sie kamen. Dann sah sie, daß eins der Fenster nur angelehnt war. Annas Stimme war weich, hatte der Mann im Treppenhaus gesagt. Aber es war nicht Annas Stimme, sondern Henriettas. Henrietta und ein Mann. Linda lauschte, versuchte, die unsichtbaren Antennen ihrer Ohren auszufahren. Sie trat noch näher heran und konnte durchs Fenster nach drinnen sehen. Henrietta saß mit halb abgewandtem Gesicht auf einem Stuhl. Auf dem Sofa, mit dem Rücken zum Fenster, saß ein Mann. Linda ging näher heran. Was der Mann sagte, konnte sie nicht verstehen. Henrietta sprach von einer Komposition, etwas von zwölf Geigen und einem einsamen Cello, ein letztes Abendmahl, die apostolische Musik. Linda begriff nicht, was Henrietta meinte. Sie versuchte, ganz leise zu sein. Irgendwo da drinnen war der Hund. Sie versuchte zu verstehen, mit wem Henrietta sprach. Warum mitten in der Nacht?
Plötzlich, langsam, wandte Henrietta den Blick zu dem Fenster, vor dem Linda stand und hineinschaute. Sie schrak zusammen. Henrietta sah ihr direkt in die Augen. Sie kann mich nicht gesehen haben, dachte Linda. Das ist unmöglich.
Aber etwas an dem Blick machte ihr angst. Sie drehte sich um und lief davon, trat aber dabei auf die Steineinfassung einer Wasserpumpe. Es schepperte im eisernen Fundament der Pumpe. Der Hund begann zu bellen.
Linda lief den gleichen Weg zurück, den sie gekommen war. Sie stolperte und fiel, schrammte sich das Gesicht auf und stolperte weiter. In dem Moment, in dem sie sich über den Zaun warf und den Pfad hinunterlief, der zu ihrem Wagen führte, hörte sie, wie weit hinter ihr auf der Rückseite des Hauses eine Tür geöffnet wurde. Aber irgendwo kam sie vom Pfad ab. Plötzlich wußte sie nicht mehr, wo sie war. Sie blieb stehen, rang keuchend nach Atem, horchte. Henrietta hatte den Hund nicht losgelassen. Dann hätte er sie schon gefunden. Sie horchte ins Dunkel hinaus. Es war niemand da. Aber sie hatte solche Angst, daß es sie am ganzen Körper schüttelte. Stück für Stück suchte sie den Weg zurück zu der Stelle, an der der Pfad zu dem Feldweg und ihrem Wagen hin abbog. Aber sie ging wieder falsch, weil sie sich im Dunkeln fürchtete und Schatten sich in Bäume und Bäume sich in Schatten verwandelten. Sie stolperte erneut und fiel.
Als sie wieder hochkam, fuhr ein heftiger Schmerz in ihr linkes Bein. Als ob ein Messer tief ins Fleisch schnitte. Sie schrie auf und versuchte, sich von dem Schmerz loszureißen. Doch sie konnte das Bein nicht bewegen. Es fühlte sich an, als habe ein Raubtier seine Zähne in ihr Bein geschlagen. Aber das Tier atmete nicht, machte keine Geräusche. Sie tastete mit der Hand am Bein hinab. Stieß an etwas Kaltes, Eisen, und eine Kette. Da verstand sie. Eine Falle war um ihr Bein zugeschnappt.
Ihre Hand wurde naß vom Blut. Sie rief um Hilfe. Aber niemand hörte sie, niemand kam.
Einmal hatte sie davon geträumt, daß sie sterben müßte, allein in einer kalten Winternacht.
Sie war im Mondschein auf einem einsam gelegenen Waldsee Schlittschuh gelaufen. Plötzlich stürzte sie und brach sich ein Bein. Sie rief, aber niemand hörte sie. Sie war dabei, dort auf dem Eis zu erfrieren, und gerade als ihr Herz aufhörte zu schlagen, fuhr sie mit einem Ruck aus dem Schlaf hoch.
An diesen Traum dachte sie, während sie versuchte, sich von der Falle zu befreien, die um ihren Unterschenkel zugeschnappt war. Zuerst wollte sie ihren Vater nicht anrufen und um Hilfe bitten. Aber die eiserne Kralle gab nicht nach. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und rief ihn an. Sie erklärte, wo sie sich befand, und daß sie Hilfe brauchte.
»Was ist denn passiert?«
»Ich bin in eine Art Falle getreten.«
»Was meinst du damit?«
»Daß ich eine Art Eisenkralle ums Bein habe.«
»Ich komme.«
Linda wartete. Sie begann zu frieren, und es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie die Wagenlichter sah. Sie hielten beim Haus. Linda rief. Die Tür wurde geöffnet. Der Hund bellte. Sie kamen durch die Dunkelheit. Eine Taschenlampe leuchtete. Es waren ihr Vater, Henrietta und der Hund. Es befand sich noch eine weitere Person in der Gruppe, aber sie blieb im Hintergrund, im Schatten.
»Du bist in eine alte
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