Vor dem Frost
Fuchsfalle getreten. Wer hat die ausgelegt?«
»Ich nicht«, sagte Henrietta. »Es muß der Grundbesitzer gewesen sein.«
»Mit dem werden wir ein Wörtchen zu reden haben.« Ihr Vater bog die Eisenklammer auseinander.
»Am besten bringen wir dich ins Krankenhaus«, sagte er.
Linda trat probeweise mit dem Fuß auf. Es tat weh, aber sie konnte ihn belasten. Der Mann, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, trat vor.
»Ein neuer Kollege, den du noch nicht kennst«, sagte ihr Vater. »Stefan Lindman. Er hat vor ein paar Wochen bei uns angefangen.«
Linda sah ihn an. Sie mochte sein Gesicht, das vom Schein der Taschenlampe beleuchtet wurde, sofort.
»Was hast du hier gemacht?« fragte Henrietta.
»Das kann ich Ihnen erklären«, sagte Stefan Lindman.
Er sprach Dialekt. Woher kam er? Konnte es värmländisch sein? Als sie im Wagen saßen und Richtung Ystad fuhren, fragte sie ihren Vater.
»Er kommt aus Västergötland«, sagte er. »Da reden sie so. Komische Sprache. Schwer, sich Respekt zu verschaffen, wenn man so spricht. Die aus Östergötland, Västergötland und aus Gotland haben es am schwersten. Am leichtesten, sich Respekt zu verschaffen, haben es anscheinend Norrbottninger. Wieso auch immer.«
»Und wie will er erklären, was ich da draußen gemacht habe?«
»Irgendwas läßt er sich schon einfallen. Aber vielleicht kannst du mir erklären, was du da draußen zu tun hattest?«
»Ich habe von Anna geträumt.«
»Was hast du geträumt?«
»Sie rief nach mir. Ich wurde wach. Und fuhr zu Henriettas Haus. Ich wußte nicht, was ich dort sollte. Ich sah Hnrietta im Haus. Und einen Mann. Dann sah sie mich an, und ich bin weggelaufen, und dann bin ich in diese Falle getreten.«
»Jetzt weiß ich jedenfalls, daß du nicht mitten in der Nacht in privater Mission unterwegs bist«, sagte er.
»Begreifst du nicht, daß es ernst ist?« schrie sie. »Daß Anna wirklich verschwunden ist?«
»Ich nehme dich ernst. Ich nehme es ernst, daß sie verschwunden ist. Ich nehme mein Leben ernst, und ich nehme deins ernst. Der Schmetterling hat den Ausschlag gegeben.«
»Was tut ihr denn?«
»Alles, was getan werden muß. Wir drehen jeden Stein um, sind auf der Jagd nach Auskünften und Informationen. Ein abwartendes Treiben wird zu einem kleinen Treiben, das zum großen Treiben führt. Wir tun alles, was wir tun müssen. Und jetzt kein Wort mehr davon, bevor wir dein Bein im Krankenhaus vorgeführt haben.«
Es dauerte eine Stunde, das Bein zu versorgen und zu verbinden. Als sie losfahren wollten, kam Stefan Lindman. Linda sah jetzt, daß er kurzgeschnittene Haare und blaue Augen hatte.
»Ich habe ihr erzählt, daß du im Dunkeln ganz schlecht siehst«, sagte er heiter. »Das mußte reichen als Erklärung dafür, daß du dort in der Nacht umhergeirrt bist.«
»Ich habe einen Mann im Haus gesehen«, sagte Linda.
»Henrietta Westin erzählte, sie habe Besuch von einem Mann gehabt, der mit ihr über die Vertonung eines Versdramas verhandeln wollte. Es klang vollkommen glaubwürdig.«
Linda zog die Jacke an. Sie bereute, ihren Vater angeschrien zu haben. Es war ein Zeichen von Schwäche. Nie schreien, immer die Kontrolle behalten. Aber sie hatte sich dumm benommen, jetzt mußte sie die Aufmerksamkeit auf die Dummheiten anderer lenken. Dennoch war ihre Erleichterung am wichtigsten. Annas Verschwinden war jetzt wirklich, nicht mehr etwas, was sie sich einbildete. Ein blauer Schmetterling hatte den Ausschlag gegeben. Der Preis war ein bohrender Schmerz im Bein.
»Stefan fährt dich nach Hause. Ich muß fort.«
Linda ging in eine Toilette und kämmte sich. Stefan Lindman wartete im Flur. Er trug eine schwarze Lederjacke und war auf der einen Backe schlecht rasiert. Das gefiel ihr nicht, schlechtrasierte Männer waren mit das Schlimmste, was sie sich vorstellen konnte. Sie zog es vor, auf seiner gutrasierten Seite zu gehen.
»Wie fühlst du dich?«
»Was glaubst du?«
»Du hast Schmerzen, nehme ich an. Ich weiß, wie das ist.«
»Was?«
»Schmerzen.«
»Bist du schon mal in eine Bärenfalle getreten?«
»Es war eine Fuchsfalle. Aber ich bin noch nie in eine getreten.«
»Dann weißt du auch nicht, wie es sich anfühlt.«
Er hielt ihr die Tür auf. Sie war immer noch irritiert. Die unrasierte Seite hatte sie gestört. Ihr Gespräch endete. Stefan Lindman war offenbar ein Mensch, der keine unnötigen Worte machte. Es war wie an der Polizeihochschule, dachte Linda. Es gab einen redenden Volksstamm und einen
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