Vor dem Frost
glaubte, daß ihre Mutter die Schmetterlinge vermißt hatte. Menschen reagieren häufig seltsam, wenn plötzlich jemand stirbt. Mir ging es ebenso, als mein Vater starb. Ich konnte anfangen zu weinen, wenn ich daran dachte, daß er sich manchmal Strümpfe anzog, die nicht zusammenpaßten.«
Linda hielt den Atem an. Er spürte sofort, daß etwas war.
»Was ist denn?«
»Komm.«
Sie gingen ins Wohnzimmer. Linda machte Licht und zeigte auf die leere Tapete.
»Ich habe versucht zu erkennen, ob sich etwas verändert hat. Das habe ich dir schon erzählt. Aber ich habe vergessen zu sagen, daß hier etwas fehlt.«
»Was?«
»Ein kleines Bild. Oder ein kleines Kästchen hinter Glas.
Mit einem Schmetterling. Ich bin mir ganz sicher. Er verschwand einen Tag nach dem, an dem Anna nicht zu Hause war.«
Er legte die Stirn in Falten. »Bist du sicher?« »Ja«, antwortete sie. »Außerdem bin ich sicher, daß der Schmetterling blau war.«
In dieser Nacht dachte Linda, daß es eines blauen Schmetterlings bedurft hatte, damit ihr Vater sie ernst zu nehmen begann. Sie war kein Kind mehr, keine rotznasige Polizeianwärterin, aus der vielleicht einmal etwas werden würde, sondern ein erwachsener Mensch, der Urteilsfähigkeit und Wahrnehmungsvermögen besaß. Am Ende war es ihr gelungen, seine festgemauerte Auffassung einzureißen, daß sie immer noch nur seine Tochter war und nichts anderes.
Es war sehr schnell gegangen. Er hatte nur gefragt, ob sie sicher sei, daß es wirklich ein Bild mit einem blauen Schmetterling war und daß es gleichzeitig mit oder kurz nach Annas Verschwinden entfernt worden war. Linda zögerte nicht. Sie konnte sich an die nächtlichen Spiele mit ihren Kurskameradinnen an der Polizeihochschule erinnern, Lilian, die aus Arvidsjaur kam und Stockholm haßte, weil es da keine Schneescooter gab, und natürlich Julia aus Lund. Sie übten ihr Gedächtnis und ihr Beobachtungsvermögen, stellten Tabletts mit zwanzig Gegenständen auf den Tisch und nahmen dann einen davon fort, um zu sehen, ob fünfzehn Sekunden Beobachtungszeit ausreichten. Linda gewann jedesmal. Ihr größtes Bravourstück war, als sie nach nur zehn Sekunden Beobachtungszeit bei einem Tablett mit neunzehn Gegenständen gemerkt hatte, daß eine Büroklammer entfernt worden war. Sie war die inoffizielle Weltmeisterin im Wahrnehmungsvermögen.
Sie war sich sicher. Der blaue Schmetterling war zugleich mit Anna verschwunden. Oder unmittelbar danach. Das gab den Ausschlag. Ihr Vater rief im Wald an und bat Ann-Britt Höglund zu kommen, wobei er gleichzeitig nach Neuigkeiten vom Fundort fragte. Linda konnte zuerst den kratzborstigen Nyberg hören, dann Martinsson, der nieste, daß es durchs Telefon zu spritzen schien, und am Schluß Lisa Holgersson, die Polizeipräsidentin, die jetzt persönlich draußen im Wald eingetroffen war. Er legte das Handy auf den Tisch.
»Ich will Ann-Britt hier haben«, sagte er. »Ich bin so müde, daß ich mich nicht mehr auf mein Urteil verlasse. Hast du jetzt alles gesagt, was wichtig ist?«
»Ich glaube schon.«
Er schüttelte zweifelnd den Kopf. »Es fällt mir immer noch schwer, das alles zu glauben. Ich frage mich, ob es nicht ein so großer Zufall ist, daß er ganz einfach nicht vorkommen kann.«
»Vor ein paar Tagen sagtest du, man müßte immer damit rechnen, daß das Unerwartete geschieht.«
»Ich gebe soviel Mist von mir«, sagte er nachdenklich. »Glaubst du, es gibt Kaffee hier im Haus?«
Das Wasser sprudelte, als Ann-Britt Höglund unten auf der Straße hupte.
»Sie fährt viel zu schnell«, sagte er. »Sie hat zwei Kinder. Stell dir vor, sie fährt sich eines Tages tot. Wirf ihr den Schlüssel runter.«
Ann-Britt Höglund fing das Schlüsselbund mit einer Hand und erschien kurz darauf in der Wohnung. Linda fand immer noch, daß Ann-Britt sie mißbilligend betrachtete. Linda bemerkte, daß sie in einem Strumpf ein Loch hatte. Aber sie war geschminkt, kräftig sogar. Wann hatte sie dafür Zeit? Oder schlief sie mit der Schminke im Gesicht?
»Möchtest du Kaffee?«
»Ja, danke.«
Linda glaubte, ihr Vater würde erzählen. Aber als sie mit dem Kaffee hereinkam und ihn auf den Tisch neben Ann-Britts Stuhl stellte, nickte er ihr zu.
»Es ist besser, wenn es aus dem Mund des Propheten kommt. Jedes Detail. Frau Höglund ist eine gute Zuhörerin.«
Linda ging die Geschichte von allen Seiten an und entfaltete sie so, wie sie sich daran erinnerte, außerdem in der richtigen Ordnung, sie zeigte das
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