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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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man lernen, Menschen an ihrer Stimme zu erkennen«, sagte August Brogren streng. »Fräulein Westin hat eine weiche Stimme, Ihre ist hart und rauh. Es ist wie der Unterschied von weichem Brot und Knäckebrot. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
    August Brogren tastete sich zum Treppengeländer und schlurfte die Treppe hinunter. Linda lauschte in ihrem Innern nach Annas Stimme und verstand, was er mit seiner Beschreibung gemeint hatte. Sie schloß die Tür und machte sich fertig, um nach Hause zu gehen. Plötzlich war ihr nach Weinen zumute. Anna ist tot, dachte sie. Anna gibt es nicht mehr. Aber sie schüttelte heftig den Kopf. Sie wollte sich das Leben so nicht vorstellen, ohne Anna. Sie legte den Wagenschlüssel auf den Küchentisch, schloß die Wohnung ab und ging durch die leere Stadt nach Hause. Dort legte sie sich aufs Bett und rollte sich in eine Wolldecke ein.
    Sie erwachte mit einem Ruck. Die Zeiger des Weckers funkelten im Dunkeln. Es war Viertel vor drei. Sie hatte nur gut eine Stunde geschlafen. Wovon war sie wach geworden? Sie stand auf und ging ins andere Schlafzimmer. Das Bett war leer. Dann setzte sie sich ins Wohnzimmer. Warum war sie wach geworden? Sie hatte etwas geträumt, eine drohende Gefahr, etwas, was sich im Dunkeln näherte, von oben, ein unsichtbarer Vogel auf lautlosen Flügeln, der auf ihren Kopf herunterschoß. Ein Schnabel, scharf wie eine Rasierklinge. Der Vogel hatte sie geweckt.
    Obwohl sie nur so kurz geschlafen hatte, fühlte sie sich klar im Kopf. Sie fragte sich, was draußen im Wald passierte, sah die Scheinwerfer vor sich, Menschen, die sich in der Schlucht hin und her bewegten, Insekten, die um die Lichtflecken schwärmten und ihre Flügel verbrannten. Sie hatte das Gefühl, aufgewacht zu sein, weil sie keine Zeit hatte zu schlafen. Hatte Anna nach ihr gerufen? Sie horchte. Die Stimme war fort. Vielleicht war sie in dem Traum mit dem Vogel gewesen? Vielleicht war der Vogel durch die Luft gesunken, lautlos, mit immer größerer Geschwindigkeit auf einen Kopf zu, der nicht ihrer war, sondern Annas? Sie schaute zur Uhr. Drei vor drei. Anna hat gerufen, dachte sie wieder. Und entschied sich im selben Augenblick. Sie zog ihre Schuhe an, nahm ihre Jacke und verließ das Haus.
    Die Wagenschlüssel lagen auf dem Tisch, wo sie sie hingelegt hatte. Um in Zukunft nicht jedesmal die Tür mit dem Dietrich öffnen zu müssen, nahm sie ein Reserveschlüsselpaar aus einer Schublade im Flur mit. Sie nahm den Wagen und verließ die Stadt. Es war inzwischen zwanzig nach drei. Sie fuhr in nördlicher Richtung und parkte auf einem Feldweg, der in einer Senke verlief und von Henriettas Haus aus nicht zu sehen war. Sie stieg aus, horchte und drückte vorsichtig die Wagentür zu. Die Nacht war kalt. Sie zog die Jacke enger um sich und ärgerte sich, weil sie nicht daran gedacht hatte, eine Taschenlampe mitzunehmen. Sie ging ein paar Schritte vom Auto weg und blickte um sich. Alles war dunkel, in einiger Entfernung war der Himmel heller vom Widerschein der Lichter von Ystad. Es war bewölkt, der Wind weiter böig.
    Sie ging den Feldweg entlang, vorsichtig, um nicht zu stolpern. Was sie tun wollte, wußte sie nicht. Aber Anna hatte gerufen. Man ließ eine Freundin, die nach einem rief, nicht im Stich. Sie blieb stehen und horchte. Irgendwo schrie ein Nachtvogel. Sie ging weiter, bis sie zu einem Pfad kam, der zur Rückseite von Henriettas Haus führte. Sie sah drei erleuchtete Fenster. Das Wohnzimmer, dachte sie. Henrietta kann wach sein. Aber vielleicht schläft sie auch und hat das Licht angelassen.
    Linda verzog das Gesicht beim Gedanken an ihre eigene Angst im Dunkeln. In den Jahren bevor ihre Eltern sich scheiden ließen und sich nachts häufig stritten, hatte sie nicht in dunklen Räumen schlafen können. Eine brennende Lampe war wie eine Beschwörung. Sie brauchte viele Jahre, um ihre Angst im Dunkeln zu überwinden. Manchmal, wenn sie sich Sorgen machte, konnte die alte Angst jedoch zurückkommen.
    Sie ging auf das Licht zu, machte einen Bogen um eine verrostete Egge und näherte sich dem Garten. Sie blieb wieder stehen und lauschte. War Henrietta wach und komponierte? Sie ging bis zum Zaun und kletterte hinüber. Der Hund, fiel ihr ein. Henriettas Hund. Was mache ich, wenn er anschlägt? Warum bin ich überhaupt hier draußen in der Dunkelheit? In ein paar Stunden kommen Vater und vielleicht Ann-Britt Höglund und ich sowieso her. Was glaube ich, auf eigene Faust entdecken zu können? Aber

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