Vor dem Frost
blieb mit dem Telefon in der Hand sitzen. Der Mann, den sie durchs Fenster gesehen hatte, der ihr zugewandte Hinterkopf, war nicht von dunklem Haar mit grauen Strähnen bedeckt gewesen. Der Nacken, den sie gesehen hatte, war kurz geschnitten.
Kurt Wallander betrat die Wohnung. Er war klatschnaß, seine Stiefel waren lehmverschmiert, doch er kam mit großen Neuigkeiten. Nyberg hatte beim Tower der Flugüberwachung in Sturup angerufen und dort erfahren, daß es aufklaren und für die nächsten achtundvierzig Stunden niederschlagsfrei sein würde. Wallander zog sich um, lehnte Lindas Fürsorge ab und machte sich selbst in der Küche ein Omelett.
Sie wartete auf den richtigen Augenblick, um von den zwei Nacken zu sprechen, die nicht übereinstimmten. Sie verstand nicht, warum sie wartete. War es noch ein Rest der alten Angst vor der Launenhaftigkeit des Vaters? Sie wußte es nicht, sie wartete einfach. Und dann, als er den Teller von sich schob und sie sich auf den Stuhl ihm gegenüber fallen ließ, war er es, der das Wort ergriff. »Ich habe über diese Sache mit meinem Vater nachgedacht«, sagte er unerwartet.
»Welche Sache?«
»Wie er war. Und wie er nicht war. Ich glaube, du und ich, wir kannten ihn jeder auf unsere Weise. So mußte es ja auch sein. Ich suchte die ganze Zeit nach mir selbst in ihm, vor allem in Sorge darum, was ich finden würde. Ich glaube auch, daß ich ihm immer ähnlicher geworden bin, je älter ich werde. Wenn ich so lange lebe wie er, setze ich mich vielleicht eines Tages auch in einen undichten Schuppen und fange an, Bilder mit Auerhähnen und Sonnenuntergängen zu malen.«
»Das tust du nie.«
»Da solltest du nicht zu sicher sein. Aber da draußen in der blutbespritzten Hütte habe ich angefangen nachzudenken. Ich dachte an Vater und etwas, was er immer wieder erzählt hat, von einer Kränkung, die ihm in jungen Jahren widerfahren war. Ich versuchte ihm zu sagen, daß es sinnlos sei, herumzulaufen und eine Kränkung wiederzukäuen, die ein Menschenalter zurücklag, ein kleiner unbedeutender Vorfall vor über fünfzig Jahren. Aber er weigerte sich, mir zuzuhören. Weißt du, wovon ich spreche?«
»Nein.«
»Ein umgekipptes Glas, das zu einer lebenslangen Anklage wegen der Ungerechtigkeit des Lebens wurde. Hat er dir nie davon erzählt?«
»Nein.«
Er holte ein Glas Wasser und trank es, als wollte er sich Kraft holen zum Erzählen.
»Vater war ja einmal jung, auch wenn es einem schwerfiel, das zu glauben. Jung und ledig und ein Wilder, der die Welt sehen wollte. Er wurde auf Vikbolandet in der Nähe von Norrköping geboren. Sein Vater schlug ihn ständig, er war Stallknecht bei einem Grafen Sigenstam, und vermutlich war er ein religiöser Grübler, denn er versuchte meinem Vater die Sünde aus dem Leib zu prügeln, mit einem Lederriemen, den er aus einem alten Pferdezaumzeug herausgeschnitten hatte. Meine Großmutter, die ich nie kennengelernt habe, war eine verschüchterte Frau, die nie etwas anderes tat, als die Hände vors Gesicht zu schlagen. Du hast die Fotografie von Großvater und Großmutter gesehen, die drinnen im Regal steht. Sieh dir meine Großmutter an. Sie macht den Eindruck, als versuche sie, aus dem Bild zu verschwinden. Es ist nicht das Foto, das verblaßt. Es ist sie, die versucht, sich selbst verblassen zu lassen. Mit vierzehn lief Vater von zu Hause weg und ging zur See, arbeitete zuerst auf Roslagsbooten und später auf größeren Schiffen. Und auf einer dieser Fahrten, im Alter von zwanzig Jahren, ging er einmal an Land, als sie in Bristol lagen.
Zu jener Zeit soff er, das versäumte er nie zu erwähnen. Mein Vater war einer, der soff, es war irgendwie schicker, als nur dazusitzen und Bier zu trinken. Die, die soffen, hatten einen anderen Rausch. Sie torkelten nicht auf den Straßen umher und gerieten in Schlägereien. Es war eine Art Seemannsaristokratie, die mit Sinn und Verstand und mit Maß soff. Es gelang ihm nie, mir das zu erklären. Wenn er und ich zusammensaßen und becherten, fand ich, daß er genauso betrunken wurde wie alle anderen auch. Rot im Gesicht, lallend, ein bißchen böse oder sentimental, meistens aber alles zusammen in einer wilden Mischung. Ich muß zugeben, daß mir das fehlt, all die Male, die wir in seiner Küche saßen und uns einen antranken und er anfing, alte italienische Schlager zu grölen, die er über alles liebte. Wenn man den Alten
Volare
hat grölen hören, dann hat man etwas gehört, was man nie vergißt, das kann ich
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