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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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dir sagen. Wenn es einen Himmel gibt, sitzt er auf einer Wolke und schmeißt Apfelgriepsche auf den Petersdom und brüllt
Volare.
    Mein Vater saß also in einem Pub im Hafen von Bristol, und jemand am Tresen stieß an sein Glas, so daß es umkippte. Und dieser Jemand bat nicht um Entschuldigung. Er schaute nur auf das umgefallene Glas und bot Vater an, ein neues zu bestellen. Darüber kam mein Vater nie hinweg. In Augenblicken, in denen man es am wenigsten erwartete, konnte er anfangen, von diesem Glas und der ausgebliebenen Entschuldigung zu schwafeln. Einmal, als er und ich auf dem Finanzamt waren, um irgendwelchen Papierkram zu erledigen, fing er plötzlich an, dem Beamten von dem Glas zu erzählen, und der fragte sich natürlich, ob mein Alter verrückt geworden wäre. Er konnte eine ganze Schlange in einem Lebensmittelgeschäft aufhalten, wenn es ihm in den Sinn kam, die junge Kassiererin müßte von der fünfzig Jahre zurückliegenden Kränkung erfahren. Es war, als verliefe bei diesem Glas eine Zäsur. Das Leben vor der ausgebliebenen Entschuldigung und das Leben danach. Wie zwei verschiedene Epochen. Als habe mein Vater den Glauben an das Gute im Menschen verloren, als ein Unbekannter sein Glas umwarf und sich nicht entschuldigte. Diese ausgebliebene Entschuldigung schien eine viel stärkere Kränkung zu sein als all die Prügel, bei denen sein Vater ihn mit dem Lederriemen blutig schlug. Ich wollte ihn ein paarmal dazu bringen, doch zu erklären, vielleicht weniger mir als sich selbst, wieso das umgeworfene Glas und die ausgebliebene Entschuldigung zum großen Dämon seines Lebens werden konnte.
    Er erzählte manchmal, daß er nachts schweißgebadet aufwachte und dort an der Theke gestanden und keine Entschuldigung bekommen hatte. Das war der Dreh- und Angelpunkt in der Welt, die heilige Schraube, die alles zusammenhielt. In gewisser Weise glaube ich, daß dieser Vorfall ihn zu dem Menschen gemacht hat, der er dann geworden ist. Ein Mann, der in einem Schuppen saß und immer und immer wieder das gleiche Bild malte. Er wollte nicht mehr als nötig mit einer Welt zu tun haben, in der Menschen sich nicht entschuldigten, wenn sie ein Glas umgeworfen hatten.
    Sogar auf unserer Italienreise fing er davon an. Wir hatten einen traumhaften Abend in einem Restaurant in der Nähe von Villa Borghese. Wunderbares Essen, guter Wein, der Alte leicht beschwipst und sentimental, schöne Frauen an den anderen Tischen, der Alte spreizte sich richtig ein bißchen vor ihnen, mußte sogar eine Zigarre rauchen, und mitten in dem Ganzen verdunkelte sich plötzlich seine Miene, und er fing an, davon zu erzählen, wie ihm damals in Bristol der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Ich versuchte, ihn von dem Thema abzubringen, aber er ließ nicht locker. Ein umgeworfenes Glas und eine ausgebliebene Entschuldigung. Daran mußte ich heute abend denken, mir ist, als wäre ich der Träger von Vaters Geschichte geworden, als hätte er sie an mich weitergegeben, als Teil eines Erbes, das ich ganz und gar nicht haben möchte.«
    Er verstummte und füllte sein Wasserglas nach. »So war mein Vater«, sagte er. »Aber für dich war er bestimmt ein anderer.«
    »Alle sind für alle anders«, sagte Linda.
    Er schob das Glas von sich und sah sie an. Seine Augen waren jetzt weniger müde. Die Geschichte von dem umgeworfenen Glas hatte ihm neue Energie gegeben. Eigentlich geht es darum, dachte Linda. Kränkungen können quälend sein. Aber sie können auch Kraft geben.
    Sie erzählte von den Nacken, die nicht übereinstimmten. Er hörte aufmerksam zu. Als sie geendet hatte, fragte er nicht, ob sie auch sicher sei mit dem, was sie durch das Fenster gesehen habe. Er merkte von Anfang an, daß sie überzeugt war. Er streckte sich nach dem Telefon und wählte eine Nummer, zuerst die falsche, dann die richtige, und bekam Stefan Lindman an den Apparat. Linda hörte, wie er kurz wiedergab, was sie gesagt hatte. Und was die Konsequenz daraus war: daß sie einen weiteren Besuch bei Henrietta Westin machen mußten.
    »Wir haben keine Zeit für Lügen«, sagte er zum Abschluß des Gesprächs, »weder für Lügen noch für Halbwahrheiten oder Ausweichmanöver wie Erinnerungslücken.«
    Er legte auf und sah sie an. »Eigentlich ist es nicht richtig«, sagte er. »Nicht einmal notwendig. Aber ich möchte dich bitten, mich zu begleiten. Wenn du kannst.«
    Linda wurde froh. »Ich kann.«
    »Und dein Bein?«
    »Es geht schon besser.«
    Sie sah, daß er ihr nicht

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