Vor dem Frost
sie.
Henrietta schien gar nicht zu hören, was Linda sagte. Sie ging durchs Zimmer und sah sich prüfend um. »Ich hoffe, Sie haben nichts angefaßt«, sagte sie.
»Wir haben nichts angefaßt«, sagte Wallander. »Wir haben ein paar Dinge, die wir klären müssen. Dann gehen wir.«
Henrietta hielt abrupt inne und fixierte ihn. »Was muß geklärt werden? Klären Sie. Ich höre.«
»Können wir uns vielleicht setzen?«
»Nein.«
Jetzt explodiert er, dachte Linda und schloß die Augen.
Aber ihr Vater beherrschte sich, vielleicht weil er ihre Reaktion wahrgenommen hatte.
»Wir müssen Kontakt zu Anna aufnehmen. Sie ist nicht in ihrer Wohnung. Wissen Sie, wo sie ist?«
»Nein.«
»Gibt es jemanden, der weiß, wo sie ist?«
»Linda ist eine ihrer Freundinnen. Haben Sie sie gefragt? Aber sie hat vielleicht keine Zeit, weil sie mir nachspionieren muß.«
Kurt Wallander wurde wütend. Henrietta hat seine unsichtbare Grenze überschritten, dachte Linda. Er brüllte so, daß der Hund sich in seinem Korb aufsetzte. Über dieses Brüllen weiß ich alles, dachte Linda. Es durchzieht mein ganzes Leben. Gott weiß, ob nicht meine früheste Erinnerung die an seine Wut ist.
»Jetzt antworten Sie klar und deutlich auf meine Fragen. Und wenn das nicht geht, nehmen wir Sie mit nach Ystad. Wir müssen mit Anna in Kontakt kommen, weil sie uns möglicherweise über Birgitta Medberg Auskunft geben kann.«
Er machte eine Pause und fuhr dann fort: »Außerdem wollen wir uns dessen versichern, daß ihr nichts passiert ist.«
»Was sollte ihr passiert sein? Anna studiert in Lund. Das weiß Linda. Warum fragen Sie nicht jemand von ihren Mitbewohnern?«
»Das werden wir tun. Sie können sich nicht vorstellen, daß sie anderswo ist?«
»Nein.«
»Dann kommen wir zur Frage nach dem Mann, der Sie besucht hat.«
»Sie meinen Peter Stigström?«
»Können Sie uns seine Frisur beschreiben?«
»Das habe ich doch schon getan.«
»Wir können Herrn Stigström natürlich besuchen. Aber im Moment wäre mir lieber, wenn Sie antworteten.«
»Er hat langes Haar, bis auf die Schultern. Dunkelbraun. Die eine oder andere graue Strähne. Reicht das?«
»Können Sie seinen Nacken beschreiben?«
»Herrgott! Wenn man schulterlanges Haar hat, hat man es auch im Nacken.«
»Und da sind Sie sicher?«
»Natürlich.«
»Dann danke ich Ihnen.«
Er verließ den Raum und schlug die Haustür laut hinter sich zu. Stefan Lindman eilte ihm nach. Linda war verwirrt. Warum hatte ihr Vater Henrietta nicht mit der Tatsache konfrontiert, daß Linda durchs Fenster einen kurzgeschorenen Nacken gesehen hatte?
Als sie gehen wollte, stellte Henrietta sich ihr in den Weg. »Ich will nicht, daß jemand hier hereinkommt, wenn ich nicht da bin. Ich will nicht das Gefühl haben, abschließen zu müssen, wenn ich mit dem Hund rausgehe. Verstehst du?«
»Ich verstehe.«
Henrietta wandte ihr den Rücken zu. »Was macht dein Bein?«
»Es geht besser.«
»Irgendwann erzählst du mir vielleicht, was du da draußen im Dunkeln gemacht hast.«
Linda verließ das Haus. Jetzt war sie sicher, warum Henrietta sich keine Sorgen um ihre Tochter machte. Obwohl ein brutaler Mord begangen worden war. Es konnte nur bedeuten, daß Henrietta wußte, wo Anna war.
Stefan Lindman und ihr Vater warteten im Wagen.
»Was macht sie?« fragte Stefan Lindman. »All die Notenblätter. Schreibt sie Schlager?«
»Sie komponiert Musik, die niemand spielen will«, sagte Kurt Wallander.
Er wandte sich zu Linda um. »Stimmt das nicht?«
»Doch, vielleicht.«
Ein Handy klingelte. Alle griffen an ihre Taschen. Es war Kurt Wallanders. Er hörte zu und sah auf die Uhr. »Ich komme.«
Er steckte das Handy wieder ein. »Wir müssen nach Rannesholm fahren«, sagte er. »Es gibt anscheinend doch Informationen darüber, daß in den letzten Tagen im Wald Personen gesehen wurden. Wir bringen dich erst nach Hause.«
Linda fragte, warum er Henrietta wegen Peter Stigströms Haar nicht härter zugesetzt habe.
»Damit warte ich noch«, sagte er. »Manchmal braucht eine Frage Zeit, um zu reifen.«
Dann sprachen sie darüber, daß Henrietta Westin sich keine Sorge wegen ihrer Tochter machte.
»Es gibt keine andere Erklärung«, sagte Kurt Wallander. »Sie weiß, wo Anna ist. Warum sie lügt, können wir uns nur fragen. Früher oder später bekommen wir wohl eine Antwort. Wenn wir uns anstrengen. Aber das ist im Augenblick kaum unsere größte Sorge.«
Sie näherten sich Ystad schweigend. Linda hatte
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