Vor dem Frost
Lust zu fragen, was draußen in Rannesholm geschehen sei. Aber sie spürte, daß sie es besser bleiben ließ. Sie hielten in der Mariagata.
»Mach einen Moment den Motor aus«, sagte ihr Vater und wandte sich halb zu ihr um. »Ich wiederhole noch einmal, was ich vorhin schon gesagt habe. Ich bin davon überzeugt, daß Anna nichts passiert ist. Ihre Mutter weiß, wo sie ist und warum sie wegbleibt. Wir haben nicht genügend Personal, jetzt jemanden für sie abzustellen. Aber nichts hindert dich daran, nach Lund zu fahren und mit ihren Freunden zu reden. Solange du nicht als Polizistin auftrittst.«
Sie stieg aus und winkte ihnen nach, als sie fuhren. Kaum hatte sie die Haustür geöffnet, hielt sie inne. Da war etwas, was Anna gesagt hatte. Vielleicht bei ihrem letzten Treffen. Sie suchte nach dem Gedanken, ohne ihn zu finden.
Linda stand früh auf am nächsten Tag. Die Wohnung war leer. Ihr Vater war in der Nacht nicht zu Hause gewesen. Kurz nach acht machte sie sich auf den Weg. Die Sonne schien, es war warm und windstill. Weil sie es nicht eilig hatte, fuhr sie auf der Küstenstraße in Richtung Trelleborg und bog erst in Anderslöv in nördlicher Richtung nach Lund ab. Sie hörte die Nachrichten im Radio. Nichts über Birgitta Medberg. Sie suchte einen dänischen Sender mit Discomusik, stellte sie laut und trat aufs Gas. Kurz vor Staffanstorp wurde sie von einem Polizeiwagen an den Straßenrand gewinkt. Sie fluchte, stellte die Musik leiser und kurbelte das Seitenfenster herunter.
»Dreizehn Kilometer zu schnell«, sagte der Polizist entzückt, als überreichte er einen Blumenstrauß.
»Nie im Leben«, erwiderte Linda. »Höchstens zehn.«
»Wir haben Sie auf dem Radar. Wenn Sie Schwierigkeiten machen, mache ich auch Schwierigkeiten. Und ich gewinne.«
Er setzte sich auf den Beifahrersitz und kontrollierte ihren Führerschein. »Warum so eilig?«
»Ich bin Polizeianwärterin«, sagte sie und bereute es sofort.
Er sah sie an. »Ich habe nicht danach gefragt, was Sie machen«, sagte er. »Ich habe gefragt, warum Sie es so eilig haben. Aber Sie brauchen nicht zu antworten. Ein Bußgeld bekommen Sie auf jeden Fall.«
Er beendete seine Aufzeichnungen, stieg aus und winkte sie auf die Fahrbahn zurück. Sie kam sich idiotisch vor, vor allem aber ärgerte sie sich über ihr Pech.
In der Innenstadt von Lund suchte sie die Adresse, parkte den Wagen und kaufte sich ein Eis. Sie war noch immer verärgert wegen des Strafzettels. Sie setzte sich auf eine Bank und versuchte, die Gedanken daran abzuschütteln. Noch neun Tage, dachte sie. Vielleicht besser, daß es jetzt passiert ist, wenn es schon passieren mußte.
In ihrer Tasche klingelte das Handy. Es war ihr Vater. »Wo bist du?«
»In Lund.«
»Hast du sie gefunden?«
»Ich bin gerade erst angekommen. Ich bin unterwegs erwischt worden.«
»Erwischt? Wobei?«
»Zu schnell gefahren.«
Er kicherte genüßlich. »Und wie fühlt man sich?«
»Was glaubst du?«
»Ich glaube, daß du dir dumm vorkommst.« Irritiert lenkte sie das Gespräch in eine andere Richtung. »Warum rufst du an?«
»Um zu sehen, ob ich dich wecken müßte.«
»Du brauchst mich nicht zu wecken, das weißt du doch. Du warst heute nacht nicht zu Hause, hab ich gesehen.«
»Ich habe eine Weile im Schloß draußen geschlafen. Wir haben da ein paar Zimmer geliehen.«
»Und wie geht es?«
»Darauf kann ich so schnell nicht antworten. Tschüß.« Sie steckte das Handy wieder ein. Warum hatte er angerufen? Er kontrolliert mich, dachte sie und stand auf.
Es war ein Holzhaus mit einem Obergeschoß und lag in einem kleinen Garten. Das Gartentor war verrostet und hing nur noch notdürftig in den Angeln. Sie klingelte an der Tür. Niemand öffnete. Sie klingelte noch einmal und horchte. Sie konnte kein Klingelgeräusch hören. Sie klopfte laut und lange. Ein Schatten erschien hinter der Glasscheibe. Ein etwa zwanzigjähriger Junge öffnete. Sein Gesicht war voller Pickel. Er trug Jeans, ein Unterhemd und einen großen braunen Bademantel mit Löchern.
Linda nahm seinen Schweißgeruch wahr. »Ich suche Anna Westin«, sagte sie.
»Sie ist nicht hier.«
»Aber sie wohnt hier im Haus?«
Er trat einen Schritt zur Seite und ließ sie herein. Sie fühlte seinen Blick im Nacken, als sie an ihm vorbeiging.
»Ihr Zimmer ist hinter der Küche«, sagte er.
Linda streckte widerwillig die Hand aus und stellte sich vor. Es schauderte sie, als er ihr eine schlappe und schweißfeuchte Hand
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