Vor dem Frost
»Fahr nach Hause«, sagte er zu Linda.
»Wir könnten dich schon jetzt brauchen«, sagte Lisa Holgersson. »Aber das Geld reicht nicht. Wann fängst du an?«
»Nächsten Montag.«
»Gut.«
Linda sah ihnen nach. Dann verließ sie das Schloß. Es regnete und war kälter geworden. Es war, als könnte das Wetter sich nicht entscheiden. Auf dem Rückweg zum Wagen fiel ihr ein Spiel ein, das Anna und sie gespielt hatten. Die Temperatur zu raten, drinnen wie draußen. Anna war sehr gut darin gewesen, sie war immer dichter dran. Linda blieb vor dem Auto stehen. Die Erinnerung hatte noch einen Zusatz, den sie weniger gern an die Oberfläche kommen ließ. Linda hatte sich über Annas bemerkenswerte Fähigkeit, die Temperatur zu raten, gewundert. Es hatte Momente gegeben, in denen sie Anna im Verdacht hatte, zu mogeln. Aber wie hätte Anna das anstellen sollen? Hatte sie ein Thermometer in ihren Kleidern versteckt? Ich muß sie fragen, dachte Linda. An dem Tag, an dem Anna zurückkommt, habe ich eine Menge Fragen an sie. Das kann bedeuten, daß diese kurze Zeit, in der wir versucht haben, eine verlorene alte Freundschaft neu zu beleben, wirklich nur kurz war, und sonst nichts.
Sie saß im Wagen und überlegte. Warum sollte sie nach Hause fahren? Was ihr Vater gesagt hatte, beruhigte sie und ließ sie ernstlich glauben, daß Anna nichts passiert war. Aber das Haus hinter der Kirche hatte ihre Neugier geweckt. Warum waren alle verschwunden? Ich kann auf jeden Fall untersuchen, wem das Haus gehört, dachte sie. Dazu brauche ich weder eine Erlaubnis noch eine Polizeiuniform. Sie fuhr zurück nach Lestarp und parkte an der gewohnten Stelle. Die Kirchentür stand halb offen. Sie zögerte, dann ging sie hinein. Im Vorraum stand der Küster.
Er erkannte sie.
»Sie kommen nicht von unserer schönen Kirche los?«
»Eigentlich bin ich hier, um etwas zu fragen.«
»Tun wir das nicht alle? In Kirchen gehen und Fragen stellen?«
»So habe ich es nicht gemeint. Ich dachte an dieses Haus da hinter der Kirche. Wem gehört es?«
»Das ist schon durch so viele Hände gegangen. Als ich jung war, wohnte da ein hinkender Häusler. Johannes Pälsson hieß er. Er arbeitete als Tagelöhner auf Stiby Gärd und verstand sich darauf, Porzellan zu reparieren. In den letzten Jahren wohnte er allein da. Er hielt die Schweine im Saal und die Hühner in der Küche. So konnte es sein, damals. Nach seinem Tod ging das Haus an jemand, der es eine Zeit als Getreidelager benutzte. Dann kam ein Pferdehändler, das war in den sechziger Jahren, und danach hat das Haus den Besitzer gewechselt, ohne daß ich mir noch die Namen gemerkt hätte.«
»Sie wissen also nicht, wem das Haus jetzt gehört?«
»Ich habe in jüngster Zeit Menschen kommen und gehen sehen. Still und bescheiden. Jemand hat gesagt, daß sie dort meditierten. Uns haben sie nie gestört. Aber von einem Besitzer habe ich nichts gehört. Darüber müßte Ihnen doch das Liegenschaftsamt Auskunft geben können.«
Linda überlegte. Was würde ihr Vater tun? »Wer kennt den meisten Klatsch im Dorf?« fragte sie.
Er sah sie fragend an. »Das bin wohl ich?«
»Aber von Ihnen abgesehen. Wenn es jemanden hier gäbe, der vielleicht wüßte, wem das Haus gehört, wer könnte das sein?«
»Vielleicht Sara Eden. Die Lehrerin, die in dem kleinen Haus neben der Kfz-Werkstatt wohnt. Sie verbringt ihre alten Tage am Telefon. Sie weiß alles, was hier los ist. Leider weiß sie auch ziemlich viel, was nicht los ist. Sie denkt sich aus, was ihrer Meinung nach fehlt, wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber im Grunde ist sie nett, nur unglaublich neugierig.«
»Was wäre, wenn ich mal bei ihr anklingelte?«
»Sie würden einer alten Frau eine Freude machen.«
Die Außentür ging auf. Die Frau namens Gudrun kam herein. Sie begegnete Lindas Blick, bevor sie ns Kircheninnere trat.
»Jeden Tag«, sagte er. »Die gleiche Zeit, die gleiche Trauer, das gleiche Gesicht.«
Linda verließ die Kirche und ging hinunter zu dem Haus. Sie blieb stehen und schaute sich um. Es war immer noch verlassen. Sie kehrte zur Kirche zurück, ließ den Wagen stehen und ging hinunter zur Autowerkstatt, die von einem Schild mit der Aufschrift
Runes Bil & Traktor
geziert wurde. Auf der einen Seite der Werkstatt waren ausgeschlachtete Autos, auf der anderen war ein hoher Holzzaun. Linda vermutete, daß die alte Lehrerin, die sie besuchen wollte, keine Aussicht auf Schrottautos haben wollte. Linda öffnete das Gartentor und betrat
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