Vor dem Frost
Vater gesehen zu haben? Warum sagte Henrietta nicht die Wahrheit? Und der Mann, der in dem gleißenden Sonnenlicht über den Kirchenvorplatz gegangen war; warum glaubte sie, daß er Annas Vater war?
Es gab noch eine andere entscheidende Frage. Welche Verbindung bestand zwischen Anna und Birgitta Medberg?
Es fiel Linda schwer, ihre Gedanken auseinanderzuhalten.
Sie wärmte den Kaffee und schrieb das, was sie gerade gedacht hatte, auf einen Notizblock. Dann knüllte sie das Papier zusammen und warf es in den Papierkorb. Ich muß mit Zebra reden, dachte sie. Bei ihr kann ich genau das sagen, was ich denke. Zebra ist klug. Sie kommt nie aus dem Gleichgewicht. Sie wird mir sagen, was ich tun soll. Sie duschte, zog sich an und rief bei Zebra an. Der Anrufbeantworter bat um die Hinterlassung einer Mitteilung. Sie rief Zebra auf ihrem Handy an. Keine Verbindung. Weil es regnete, war Zebra kaum mit ihrem Jungen draußen. Vielleicht besuchte sie ihre Kusine.
Linda war ungeduldig und gereizt. Sie überlegte, ob sie ihren Vater anrufen sollte, vielleicht sogar ihre Mutter, um mit jemandem reden zu können. Aber sie sagte sich, daß sie ihren Vater nicht stören wollte. Ein Gespräch mit Mona konnte ewig dauern. Das wollte sie nicht. Sie stieg in ihre Stiefel, zog die Regenjacke über und ging hinunter zum Wagen. Sie begann sich daran zu gewöhnen, ein Auto zur Verfügung zu haben. Das war gefährlich. Wenn Anna zurückkam, würde sie wieder zu Fuß gehen, wenn sie nicht den Wagen ihres Vaters leihen konnte. Sie verließ die Stadt und hielt an, um zu tanken. Ein Mann, der an einer Zapfsäule stand, nickte ihr zu. Sie kannte ihn, ohne darauf zu kommen, wer er war, aber als sie vor der Kasse drinnen zusammenstießen, wußte sie, wer er war. Sten Widen. Der Krebs hatte und bald sterben würde.
»Du bist doch Linda, nicht wahr?«
Seine Stimme klang heiser und müde.
»Ja. Und du bist Sten?«
Er lachte, es war ein gequältes Lachen, das ihn große Anstrengung zu kosten schien. »Ich kann mich noch an dich erinnern, als du klein warst. Auf einmal bist du groß. Und Polizistin.«
»Was machen die Pferde?«
Er antwortete erst, als sie bezahlt hatten und ins Freie traten.
»Dein Vater hat dir sicher erzählt, was mit mir los ist. Daß ich Krebs habe und bald sterben werde. Die letzten Pferde gehen nächste Woche weg. Tja, so ist das. Viel Glück im Leben.«
Er wartete keine Antwort ab, setzte sich nur in seinen schäbigen Volvo und fuhr davon. Linda sah ihm nach und konnte nichts anderes denken, als daß sie dankbar war, nicht diejenige zu sein, die ihre Pferde verkaufen mußte.
Sie fuhr nach Lestarp und parkte an der Kirche. Jemand muß es wissen, dachte sie. Wenn Anna nicht da ist, wo ist sie dann? Sie zog die Kapuze der alten Regenjacke über den Kopf und hastete den Weg hinter der Kirche entlang. Der Hofplatz war verlassen, an dem rostigen Traktor glitzerte der Regen. Sie klopfte an die Tür. Die Tür glitt auf. Aber es hatte niemand geöffnet, die Tür war nur angelehnt gewesen. Sie rief hallo, erhielt aber keine Antwort. Als sie hineinging, sah sie sofort, daß das Haus leer war. Es war niemand da. Nichts. Das Haus war nicht nur leer. Es war verlassen. Sie sah, daß das schwarze Kreuz von der Wand verschwunden war. Es wirkte, als stehe das Haus schon seit langem leer.
Linda stand in der Mitte des Raums, ohne sich zu rühren. Der Mann im Gegenlicht, dachte sie. Den ich gestern gesehen habe und für Annas Vater hielt. Er ist hergekommen. Und heute sind alle fort.
Sie verließ das Haus und fuhr nach Rannesholm. Dort erfuhr sie, daß ihr Vater sich im Schloß mit seinen engsten Mitarbeitern zu einer Besprechung zusammengesetzt hatte. Sie ging durch den Regen dorthin und setzte sich in die untere Halle, um zu warten. Sie dachte an Margareta Olssons Worte: Anna Westin brauchte sich keine Sorgen zu machen, weil sie Beschützer hatte. Einen Gott und einen Schutzheiligen namens Gabriel. Sie hielt es für eine wichtige Information, vermochte aber nicht zu sagen, wieso.
Linda hörte nie auf, sich über ihren Vater zu wundern. Genauer gesagt, sie hörte nicht auf, sich darüber zu wundern, daß sie nie ganz verstanden hatte, warum ihr Vater mitten in all seiner strikten Routine so wechselhaft sein konnte. Wie jetzt, als sie ihn durch eine Tür in der großen Eingangshalle von Schloß Rannesholm treten und auf sich zukommen sah. Er ist müde, dachte sie, müde und sauer und besorgt. Aber er war bei guter Laune. Er setzte sich
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