Vor dem Frost
hat mit meiner Auffassung von der wirtschaftlichen Realität zu tun. Da, wenn irgendwo, in der großen Kathedrale der Marktwirtschaft, muß man wissen, hinter welchen Pfeilern man sich verstecken kann, um die bestmöglichen Informationen zu ergaunern.«
»Sie hat hier also jemand, der ihr Vertrauter ist?«
»Komisches Wort, Vertrauter. Was heißt das? Ich habe keinen Vertrauten, und Anna auch nicht. Wenn ich weiter ehrlich sein soll, muß ich sagen, daß ich sie unglaublich bescheuert finde. Ich dachte, Gott, bewahre mich davor, von so einer Ärztin untersucht und behandelt zu werden. Das war, als ich noch glaubte, sie studiere Medizin. Anna Westin redet laut und über Gott und die Welt. Wir alle finden, daß ihre Gespräche hier in der Küche wie naive und wirkungslose Predigten sind. Sie moralisiert. Das kann keiner von uns ab. Außer möglicherweise unser Freund, der Schachspieler. Er hängt wohl dem eitlen Traum nach, sie eines Tages mit in sein Bett zu kriegen.«
»Und wird er es schaffen?«
»Wohl kaum.«
»Was meinst du damit, daß sie moralisiert?«
»Sie redet über unsere armseligen Leben. Daß wir uns nicht um unsere innere Welt kümmern. Ich weiß nicht richtig, woran sie glaubt. Sie ist Christin. Ich habe einmal versucht, mit ihr über den Islam zu diskutieren. Aber da ist sie aus der Haut gefahren. Sie ist christlich, konservativ christlich, glaube ich. Weiter bin ich nicht gekommen. Aber etwas hat sie, einen Kern von etwas, das echt ist, wenn sie ihre religiösen Gedanken beschreibt. Manchmal kann man sie hinter ihrer Tür beten hören. Es klingt aufrichtig, ehrlich. Dann lügt sie nicht, stiehlt nicht. Sie ist, wie sie ist. Mehr weiß ich nicht.«
Das Gespräch war zu Ende. Margareta sah sie an. »Ist etwas passiert?«
Linda schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Vielleicht.«
»Machst du dir Sorgen?«
»Ja.«
Margareta stand auf. »Anna Westin hat einen Gott, der sie beschützt. Zumindest sagt sie das, damit prahlt sie. Einen Gott und einen Schutzheiligen, den sie Gabriel nennt. War das nicht ein Engel? Ich weiß das alles nicht mehr so genau. Aber mit so vielen überirdischen Leibwächtern muß sie einfach auf der sicheren Seite sein.«
Margareta streckte die Hand aus. »Ich muß jetzt gehen. Bist du Studentin?«
»Ich bin Polizistin. Ich werde Polizistin.«
Margareta betrachtete sie forschend. »Das wirst du bestimmt. So viele Fragen, wie du hast.«
Linda fiel noch eine Frage ein. »Kennst du eine Frau, die Mirre heißt?«
»Nein.«
»Weißt du, ob Anna eine kennt? Sie ist auf ihrem Anrufbeantworter.«
»Ich kann die anderen fragen.«
Linda gab ihr ihre Telefonnummer und verließ das Haus. Auch jetzt noch empfand sie einen unklaren Neid auf Margareta Olsson, wegen ihrer Art, sich zu geben, ihrer Selbstsicherheit. Was hatte sie, das Linda fehlte? Sie wußte es nicht. Sie fuhr nach Hause, parkte den Wagen, kaufte ein und merkte, daß sie müde war. Schon um zehn war sie eingeschlafen.
Am Montagmorgen erwachte Linda davon, daß die Wohnungstür zuschlug. Sie setzte sich verschlafen im Bett auf. Es war sechs Uhr. Sie legte sich wieder hin und versuchte, wieder einzuschlafen. Regentropfen trommelten aufs Fensterblech. Es war ein Geräusch, an das sie sich aus ihrer Kindheit erinnerte. Die Regentropfen, Monas schlurfende Pantoffeln und die energischen Schritte ihres Vaters. Früher war es für sie die höchste Form von Geborgenheit gewesen, vor der Schlafzimmertür ihrer Eltern zu lauschen. Sie schüttelte die Erinnerungen ab und stand auf. Das Rollo sauste mit einem Knall hoch. Draußen regnete es in Strömen. Das Thermometer im Küchenfenster zeigte zwölf Grad an. Das Wetter war umgeschlagen. Ihr Vater hatte vergessen, eine Herdplatte auszumachen. Seine Kaffeetasse war nur halb geleert. Er ist besorgt, und er ist gehetzt, dachte sie.
Sie zog die Zeitung heran und blätterte bis zum Bericht über die Ereignisse im Wald von Rannesholm vor. Es gab ein kurzes Interview mit ihrem Vater. Es war noch zu früh, sie wußten nicht, sie hatten keine Spur, aber vielleicht hatten sie trotz allem ein paar Spuren, sie konnten zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr sagen. Sie legte die Zeitung weg und begann an Anna zu denken. Wenn Margareta Olsson recht hatte, und es gab keinen Grund, daran zu zweifeln, hatte Anna sich in den Jahren, in denen sie sich aus den Augen verloren hatten, zu einer ganz anderen Persönlichkeit entwickelt. Aber warum hielt sie sich fern? Warum behauptete sie, ihren
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