Vor dem Frost
Sitz anders eingestellt war. Eine Kerbe weiter zurück. Die Person, die hier gesessen hatte, war größer als sie. So groß, daß es notwendig war, den Sitz zu verstellen, um überhaupt hinters Steuer zu kommen. Sie schnüffelte im Innern des Wagens, konnte jedoch keine fremden Gerüche wahrnehmen, kein Rasierwasser, kein Parfüm. Sie sah überall nach. In dem schwarzen Plastikbecher mit Parkmünzen, den Anna hinter dem Schalthebel festgeklebt hatte, war etwas verändert, doch sie konnte nicht sagen, was.
Linda dachte wieder an Mona. Es war in den Jahren ihres Heranwachsens wie ein Katz-und-Maus-Spiel gewesen. Sie konnte sich nicht mehr exakt an den Zeitpunkt erinnern, als ihr klar wurde, daß ihre Mutter ständig ihre Sachen durchsuchte, auf der Jagd nach unbekannten Geheimnissen. Vielleicht war sie acht oder neun Jahre alt, als sie merkte, daß jedesmal, wenn sie aus der Schule kam, etwas verändert war. Zuerst hatte sie natürlich gedacht, sie habe sich falsch erinnert. Daß die rote Jacke mit dem einen Ärmel über der grünen gehangen hatte und nicht umgekehrt. Sie hatte sogar Mona gefragt, die böse geworden war. Das hatte ihren ersten Verdacht erweckt. Dann hatte das Katz-und-Maus-Spiel im Ernst angefangen. Sie hatte zwischen ihren Anziehsachen, ihrem Spielzeug und ihren Büchern Fallen arrangiert. Aber es war, als habe ihre Mutter sofort verstanden, daß sie im Begriff war, ertappt zu werden. Linda mußte immer kompliziertere Fallen bauen. Sie hatte immer noch ein Notizbuch, in dem sie sich aufgeschrieben und zuweilen sogar eine Zeichnung gemacht hatte, welche Falle sie angelegt hatte, um sicher zu sein, nicht das exakte Muster zu vergessen, das ihre Mutter durcheinanderbringen sollte, um sich selbst zu entlarven.
Sie blickte sich weiter im Wagen um. Eine Mutter war hier und hat spioniert. Eine Mutter, die ein Mann oder eine Frau gewesen sein kann. Es gibt männliche Mütter und weibliche Väter; im Leben seiner Kinder zu spionieren, um etwas von seinem eigenen zu verstehen, ist gewöhnlicher, als man denkt. Unter meinen Freundinnen ist kaum eine, die nicht mindestens ein spionierendes Elternteil hatte. Sie dachte an ihren Vater. Er hatte nie in ihren Sachen herumgewühlt. Dann und wann hatte sie wachgelegen und gemerkt, wie er vorsichtig durch den Türspalt äugte, um zu kontrollieren, ob sie wirklich zu Hause war. Aber er hatte sich nie auf unerlaubte Expeditionen in die Welt ihrer Geheimnisse begeben. Das war immer Mona gewesen.
Linda beugte sich neben dem Steuerrad vor und schaute unter den Sitz. Dort sollte eine kleine Bürste liegen, die Anna für die Sitze benutzte. Sie war da. Aber Linda sah sofort, daß jemand sie anders hingelegt hatte. Sie öffnete das Handschuhfach und ging systematisch den Inhalt durch. Es fehlte nichts. Was besagte das? Daß die Person, die gesucht hatte, nichts Wertvolles gefunden hatte. Das Radio war nicht wertvoll. Es war etwas anderes. Aber man konnte den Gedanken noch einen Schritt weiterverfolgen und die Mutter, die dem Auto einen Besuch abgestattet hatte, besser kennenlernen. Das Radio mitzunehmen wäre eine einfache Methode gewesen, den Vorsatz, das Spionieren, zu verschleiern. Dann hätte Linda es für einen gewöhnlichen Einbruch gehalten und den Umstand verflucht, daß sie zu faul gewesen war, den Wagen abzuschließen.
Ich habe es mit einer besonders schlauen Mutter zu tun, dachte sie.
Weiter kam sie nicht. Sie gelangte zu keiner Schlußfolgerung. Keiner Antwort auf die Fragen: Wer und warum? Sie stieg aus dem Auto, rückte den Sitz in die richtige Position und sah sich um.
Ein Mann war im Gegenlicht auf sie zugekommen. Sie hatte einen Nacken gesehen und gedacht, daß es Annas Vater sei.
Aber jetzt schüttelte sie irritiert den Kopf zu dem Spiel. Anna hatte sich eingebildet, es sei ihr Vater gewesen, den sie auf der Straße gesehen hatte. Vielleicht war sie so enttäuscht gewesen, daß sie einfach weggefahren war. Das hatte sie auch früher schon getan, plötzliche Aufbrüche, und nachher wußte niemand, wo sie gewesen war. Zebra hatte davon erzählt. Zebra hatte die Lücken in Lindas Wissen über Anna in den Jahren, in denen sie keinen Kontakt hatten, ausgefüllt. Aber Zebra hatte auch gesagt, daß zumindest irgend jemand immer wußte, daß Anna fort war. Ganz spurlos verschwand sie nie.
Wem hat sie diesmal die Spur hinterlassen? Da liegt der Fehler, dachte Linda, daß ich die Person nicht finde, der sie etwas erzählt hat.
Sie ging zurück über den
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