Vor dem Frost
neben sie auf die Couch und erzählte eine nichtssagende Geschichte darüber, wie er einmal in einem Restaurant ein Paar Handschuhe vergessen hatte und als Ersatz dafür einen kaputten Schirm angeboten bekam. Dreht er jetzt durch? dachte sie. Doch als Martinsson sich zu ihnen gesellte und ihr Vater auf die Toilette ging, sagte Martinsson, Kurt Wallander scheine gegenwärtig bei guter Laune zu sein, wahrscheinlich weil sie, seine Tochter, wieder in ihre Heimatstadt zurückgekehrt sei. Martinsson ging, als ihr Vater zurückkam. Er ließ sich auf die Couch plumpsen, daß die alten Federn quietschten. Sie erzählte ihm von ihrer Begegnung mit Sten Widen.
»Er zeigt eine bewundernswerte Stärke angesichts seines Schicksals«, sagte er, als sie geendet hatte. »Er erinnert mich an Rydberg, der mit der gleichen Ruhe dem begegnete, was auf ihn zukam. Manchmal denke ich, es ist vielleicht eine Gnade, auf die man hoffen kann, daß man sich, wenn der Augenblick gekommen ist, als stärker erweist, als man vorher glauben mag.«
Ein paar Ordnungspolizisten trugen geräuschvoll einige Kisten mit kriminaltechnischer Ausrüstung vorbei. Dann war es wieder still.
»Wie geht es voran?« fragte Linda vorsichtig.
»Schlecht. Oder eher langsam. Die Ungeduld wächst, je schlimmer das Verbrechen ist, vor dem man steht. Ich kannte einmal einen Kollegen in Malmö, Birch hieß er, der Verbrechensermittler mit Ärzten zu vergleichen pflegte. Man dämpft vor einer schwierigen Operation seine Ungeduld. Dann ist Ruhe erforderlich, Zeit, Geduld. Ein bißchen so ist es bei uns. Birch ist auch tot. Er ist in einem Waldsee ertrunken. Er schwamm, bekam einen Krampf, niemand hörte ihn. Was hatte er auch da in dem See zu suchen. Er hätte es besser wissen können, sollte man meinen. Aber jetzt ist er tot. Es sterben die ganze Zeit so viele Leute. Das ist natürlich ein idiotischer Gedanke. Ununterbrochen werden Menschen geboren und sterben Menschen. Nur merkt man es deutlicher, wenn man in der Schlange nach vorn rückt. Als Vater starb, war ich derjenige, der in die vorderste Reihe geschubst wurde.«
Er verstummte und sah auf seine Hände. Dann wandte er sich ihr zu. Er lächelte. »Was hattest du gefragt?«
»Wie es vorangeht.«
»Wir haben weder die Spur eines Motivs noch eines Täters. Und wir haben keine Ahnung, wer in der Hütte gehaust hat.«
»Und was glaubst du?«
»Du weißt, daß du mich nie fragen sollst, was ich glaube. Nur was ich weiß, oder was ich ahne.«
»Ich bin neugierig.«
Er seufzte demonstrativ. »Ich mache also eine Ausnahme. Ich
glaube,
daß Birgitta Medberg bei ihrer Jagd nach alten Pilgerpfaden rein zufällig auf die Hütte stieß. Da war jemand, der entweder die Panik bekam oder wütend wurde und sie erschlug. Aber daß er sie zerstückelte, macht das Bild komplizierter.«
»Habt ihr den Rest der Leiche gefunden?«
»Wir suchen den See ab. Die Hunde durchkämmen den Wald. Bisher nichts. Es wird dauern.«
Er richtete sich auf der Couch auf, als sei die Gesprächszeit gleich um.
»Ich nehme an, du willst etwas erzählen?«
Linda berichtete ihm von ihrer Begegnung mit dem Schachspieler und Margareta Olsson. Sie erzählte von dem Haus hinter der Kirche in Lestarp und bemühte sich, keine Details auszulassen.
»Zu viele Worte«, sagte er, nachdem sie geendet hatte. »Du hättest es mit weniger Wörtern besser ausdrücken können.«
»Ich übe noch. Hast du verstanden, was ich gesagt habe?«
»Ja.«
»Dann muß ich immerhin so erzählt haben, daß es nicht ganz mangelhaft war.«
»Befriedigend minus«, sagte er.
»Und was soll ich deiner Meinung nach tun?«
»Du sollst aufhören, dir Sorgen zu machen. Du hörst mir nicht zu. Birgitta Medberg ist etwas zugestoßen, weil ihr ein Fehler unterlaufen ist. Ihr selbst. Ein Fehler von nahezu biblischen Proportionen. Sie hat den falschen Weg eingeschlagen. Die ganze Geschichte des Christentums ist voller falscher und richtiger Wege, schmaler und breiter, gewundener und verräterischer Wege. Birgitta Medberg hatte, wenn ich mich nicht irre, ein grauenhaftes Pech. Und demnach entfallen sämtliche denkbaren Ursachen für die Befürchtung, daß Anna etwas zugestoßen sein könnte. Es gibt eine Verbindung zwischen den beiden, wie das Tagebuch zeigt. Aber nichts, was uns im Moment nützt.«
Ann-Britt Höglund und Lisa Holgersson kamen vorbei. Sie waren in Eile. Lisa nickte Linda freundlich zu, Ann-Britt Höglund schien sie nicht zu bemerken.
Kurt Wallander stand auf.
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