Vor dem Regen - Roman
diese Bierbäuche und die sonnenverheerte Haut. Eine Woche hatte sie sich gegeben. Doch in der Nacht war mit einem Mal alles anders. Die Schäbigkeit war in gnädiges Dunkel gehüllt, die Luft von unvorstellbarer, fast samtener Zartheit, erfüllt von den süßesten Düften.
»Entschuldige, dass ich so spät dran bin.«
Dusty hob den Blick und sah Julien neben sich stehen. Wie jedes Mal fuhr ihr ein kurzer Stich ins Herz. Auch mit sechsunddreißig hatte er sich sein lausbubenhaft gutes Aussehen bewahrt. Sommersprossen quer über den Nasenrücken. Das spitzbübische, ein wenig schiefe Lächeln. Er trug Designerjeans, ein langärmliges, dezent geblümtes Hemd und sah wie immer toll aus.
»Julien, du kommst immer zu spät.«
»Schon, aber ich bedaure es auch jedes Mal aufrichtig.«
Bleichgesichtchen rauschte heran. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen, Sir?«
»Schampus!«, entfuhr es Julien überschwänglich. »Ich
habe einen bedeutenden Abschluss mit einem Eurowesen fix gemacht«, erklärte er Dusty verschwörerisch.
»Einem was?«
»So nenn ich die jetzt, Europäer.«
»Sehr putzig«, sagte Dusty.
Seit letztem Jahr führte Julien seine eigene Galerie, mit der er sich ganz auf die indigene Kunst aus Maningrida spezialisiert hatte, einer Siedlung an der Mündung des Liverpool River, knapp dreihundertfünfzig Kilometer östlich von Darwin.
»Moët oder Krug, Sir?«
»Wollen wir doch mal sehen«, sagte Julien mit einem Blick auf die Preisspalte der Weinkarte. »Ach, der Seaview Brut tut es vollauf.« Und dann wieder verschwörerisch: »Ich habe nur einen Druck verkauft.«
Der Champagner kam, und sie stießen an, erst unten, dann oben, dann sahen sie einander in die Augen. Das war eine von Juliens unumstößlichen Regeln: Wenn man sich nicht daran hielt, folgten unweigerlich zehn Jahre schlechter Sex.
»Auf die Galerie«, sagte Dusty.
»Scheiß auf die Galerie. Die hat das nicht nötig, nicht, solange die Eurowesen mit ihren Euroscheinen um sich schmeißen. Auf uns! Wie lange ist es jetzt her?«
»Lass mich mal überlegen«, meinte Dusty und überschlug die Spanne im Kopf. »Elf Jahre.«
Damals war Dusty noch Polizistin im Probedienst und in Uniform gewesen, als ein völlig aufgelöster Julien in das Revier von Berrimah stürzte. Man hatte ihm den Wagen gestohlen. Auf der Rückbank mehrere Aborigine-Gemälde, die er für seine Abschlussarbeit ausgeliehen hatte. Der diensthabende
Beamte hatte ihn ausgelacht - Mann, es ist doch nur ein alter Datsun 120Y -, und so hatte Dusty sich seiner angenommen und ihm versichert, sie werde alles tun, um den Wagen wiederzufinden. Etliche Tage war sie in der Gegend herumgefahren, hauptsächlich in ihrer Freizeit, und hatte sämtliche in Frage kommenden Verdächtigen ausgequetscht, bis sie letztendlich den Wagen und, deutlich wichtiger, die Gemälde wiederbeschafft hatte. Seitdem verband sie eine enge Freundschaft.
Von der anderen Hafenseite leuchteten die Lichter des Zentrums von Darwin herüber. Auch der Mond war aufgegangen. Die gewaltige, bleiche Scheibe warf ihr Licht auf das Wasser des Hafens und ließ den Umriss einer Gruppe von Palmen am Strand hervortreten.
»Das hat was, das lässt sich nicht leugnen, oder?«, sagte Dusty mit einer Handbewegung auf die nächtliche Szenerie.
»Was soll das denn heißen, ›hat was‹? Es ist wunderschön! Da sind Palmen. Der Mond spiegelt sich im Wasser. Du machst mich echt fertig, Dusty. Du bist die Erste, die diese Stadt in Schutz nimmt, sobald jemand drauf rumhacken will, und trotzdem hältst du sie im Grunde für zweitklassig.«
»Kann sein«, erwiderte Dusty und leerte das Champagnerglas.
Australisch, aber er schmeckte phantastisch. Und er hatte den gewünschten Effekt: Sie konnte spüren, wie sie sich entspannte, sich mit dem Abend anfreundete. Sie sprachen eine Weile über die gemeinsame Bali-Reise, dann sagte Dusty: »Julien, darf ich dir eine sehr persönliche Frage stellen?«
»Mein Leben ist ein offenes Buch. Na ja, um ehrlich zu sein, mehr so eine Art Promimagazin.«
»Meinst du, du wirst immer schwul bleiben?«
»Dusty! Jetzt fang nicht wieder damit an.«
»Aber wie war’s denn, als wir Sex hatten? Hat dir das vielleicht keinen Spaß gemacht?«
Während besagter elf Jahre hatten Dusty und Julien für drei Jahre ein Haus geteilt, sie hatten zwölf Hochzeiten und vier Beerdigungen miteinander besucht, waren elfmal miteinander auf Bali gewesen, dreimal in Thailand, zweimal in Indien und einmal in
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