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Vor dem Sturm (German Edition)

Vor dem Sturm (German Edition)

Titel: Vor dem Sturm (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesmyn Ward
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Nase schlug Furchen, und sie biss sich auf die Lippe. Dann schüttelte sie den Kopf, hob das Kinn zur Decke wie ein Tier auf dem Schlachtblock, so wie Daddy und Papa Joseph Schweine vor das Messer hielten, und schloss die Augen. Dann fing sie an zu weinen. Sie hielt sich mit beiden Händen ihren flach gewordenen Bauch, der so weich wie ein erschlaffter Fußball war. Ich hatte sie noch nie weinen sehen. Aber gesagt hat sie kein Wort, auch nicht, nachdem Daddy ihre Freunde Tilda und Mister Joe gerufen hatte, um auf uns aufzupassen, auch nicht, nachdem er sie und Junior nach draußen in den Wagen getragen hatte und sie zusammengesunken an der Scheibe lehnte und uns anschaute, während Daddy losfuhr. Sie schüttelte nur den Kopf. Vielleicht sollte das
Nein
bedeuten. Oder
Keine Angst – ich komme wieder
. Oder
Tut mir leid
. Oder
Tu’s nicht
.
Werde nicht wie die Frau in diesem Bett, Esch
, hätte sie sagen können. Und nun bin ich doch so geworden.
    »Nein«, sage ich. »Das weiß ich nicht mehr.«
    »Ich aber«, sagt Skeetah und legt das Kinn in seine Fäuste. »Sie hat gesagt, sie liebt uns, als sie in den Wagen gestiegen ist. Und dann hat sie gesagt, wir sollen brav sein. Uns umeinander kümmern.«
    »Das weiß ich nicht mehr.« Ich glaube, Skeetah bildet sich das ein.
    »Hat sie aber.« Skeetah setzt sich auf, lehnt sich wieder auf dem Bett zurück und legt ganz ruhig eine Hand auf Chinas Hals. Sie seufzt. »Du siehst ihr ähnlich. Weißt du das?«
    »Nein.«
    »Doch. Du bist nicht so groß wie sie, aber im Gesicht. So um die Lippen und die Augen rum. Je älter du wirst, desto mehr siehst du ihr ähnlich.«
    Ich weiß nicht, was ich sagen soll, deshalb schneide ich eineGrimasse und schüttele den Kopf.
Aber Mama, die Mama bleibt da, siehst du?
Ich vermisse sie so sehr, dass ich Salz schlucken muss und mir vorstelle, wie es wie Zitronensaft in die frische Wunde meiner Brust rinnt. Ich spüre, wie es brennt.
    »Hast du das gehört?«
    »Was?« Ich klinge schon wieder verschnupft. Riesige Blätterbündel schlagen aufs Dach. Es regnet stark und unaufhörlich, das Wasser trifft in dicht aufeinanderfolgenden, heftigen Schwällen auf das Haus. Immerhin klingt der Wind nicht schon wieder wie ein Zug.
    »Das«, sagt Skeetah. Er hat den Kopf schief gelegt, das Ohr zum Fenster gerichtet. Seine Augen glänzen im Licht der Lampe. Er steht auf, und China steht ebenfalls auf. Ihre Ohren sind gerade, der Schwanz aufgestellt, die Zunge unsichtbar. Irgendwo draußen im Sturm bellt ein Hund.
    »Ja«, sage ich, und dann stehen wir alle drei am Fenster und spähen durch den Spalt zwischen den Brettern. Wir hören den Hund, aber wir können ihn nicht sehen; was wir aber sehen, sind die Kiefern, die dünnen Bäume, die sich im Sturm biegen, bis sie beinahe abbrechen. Selbst die Eichen verlieren in dem grauen Licht und dem peitschenden Regen Blätter und Äste. Der Hund bellt laut, so schnell wie Trommelschläge, und die Art, wie das Bellen am Ende immer höher wird, erinnert mich an Mamas Stöhnen, an die sich biegenden Kiefern, an einen Körper, der sich nicht mehr selbst zusammenhalten kann, an etwas, das kurz vor dem Zerbrechen ist. Die hohen Töne sind wie kleine Risse. Der Hund umkreist das Haus, sein Bellen ist abwechselnd nah und fern. Ist es einer von Juniors Kötern, ein räudiges Familienmitglied, das Schutz sucht, einen kühlen Platz unter dem Haus bei einem Jungen mit knorrigen Knien und ohne Regen?
    »Unmöglich.« Skeetah beugt sich zum Fenster vor, als könneer sich durch die Scheibe und das Brett schieben und diesen unsichtbaren Hund retten, der für ihn, das weiß ich, so wie China ist. Sie erhebt sich auf die Hinterbeine, drückt die Pfoten gegen die Wand, lehnt sich an Skeetah und stößt mit dem Kopf an seinen Oberschenkel. Ihr glatter weißer Kopf und die schlaffen Ohren sind so weich wie die Babydecken, in denen Daddy Junior nach Hause brachte, als er aus dem Krankenhaus zurückkam und Mama nicht.
Hier is euer kleiner Bruder. Claude Adam Batiste der Zweite. Ihr könnt ihn Junior nennen.
Und dann:
Eure Mama hat’s nicht geschafft
. Der suchende Hund bellt noch ein letztes Mal, ehe der Regen und der Wind so heftig werden wie ein Würgehalsband und ihn zum Schweigen bringen. China antwortet mit einem Knurren, verschluckt es aber, als Skeetah sich vor sie hinkniet, ihr Gesicht in beide Hände nimmt und ihr die Ohren nach hinten streicht, sodass ihre Augen nur noch Schlitze sind und sie grinsen muss, weil ihre Haut

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