Vor dem Sturm (German Edition)
schon fertig geformt habe, eine schwarze Athene, die nach mir greift. Die mir diesen Namen gibt, als sei es meiner:
Mama
. Ich schlucke und schmecke Salz. Diese Stimme, die in meinem Kopf dröhnt, wird von einem Zug überlagert, der einen langen, hohen Pfeifton ausstößt. Und dann verschwindet sie, und es ist nur noch das Geräusch des Windes da, wie eine Schlange, groß genug, um die ganze Welt zu verschlingen. Sie gleitet auf ein Gebirge zu. Und wieder klingt der Wind wie ein Zug, und das Haus knarrt. Ich rolle mich zu einer Kugel zusammen.
»Habt ihr das gehört?«
Es ist Skeetah; ich kann ihn kaum sehen. Er ist nichts als ein etwas dunklerer Schatten, der sich im dunklen Durchgang zum Flur bewegt.
»Ja«, sage ich. Meine Stimme klingt, als sei ich erkältet, weil sich der ganze Schleim vom Weinen in meiner Nase angesammelt hat.
Ein Zug
, sagte Mama.
Camille kam, und der Wind klang wie ein Zug
. Als Mama mir das erzählte, vergrub ich mein Gesicht in ihrem Knie. Ich hatte schon mal Züge gehört, als wir am Austernschalenstrand schwimmen waren, wo die Züge, die durch St. Catherine fahren, laut in der Ferne pfeifen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Wind sich so anhören kann. Aber jetzt höre ich den Wind und kann es.
»Wo ist die Lampe?«
»Auf dem Tisch«, sagte ich mit piepsiger Stimme. Skeetah ging zum Tisch, stieß im Halbdunkel gegen alle möglichen Gegenstände und fummelte an der Petroleumlampe herum, bis sie brannte.
»Komm mit« sagt Skeetah, und ich folge ihm nach hinten, in sein und Randalls Zimmer, das kleiner wirkt, als es ist, und eng, heiß und rot im Schein einer kleineren Petroleumlampe, die Skeet im Schuppen gefunden haben muss. Nachdem er Daddys offene Tür aus dem Augenwinkel betrachtet hat, schließt er hinter uns die Tür. Der Wind kreischt. Bäume strecken ihre Äste aus und schlagen mit ihren Gliedern gegen das Haus. Skeet setzt sich aufs Bett, neben China, die sich ausgestreckt hat und träge den Kopf hebt, um mich anzuschauen, und sich dann in einem Rutsch mit der Zunge über Nase und Maul fährt. Ich klettere auf Randalls Bett und umschlinge meine Knie mit beiden Armen. Im Welpeneimer ist alles ruhig.
»Hast du Angst?«
»Nein«, sagt Skeetah. Er reibt mit einer Hand von Chinas Nacken über ihre Schulter, ihren Rücken, ihren Oberschenkel. Sie lässt ihren Kopf zurückfallen und leckt sich erneut.
»Ich schon«, sage ich. »So hat sich der Wind noch nie angehört.«
»Wir sind noch nicht mal in der Bucht. Wir sind weit genug oben im Wald, wir werden okay sein. Die Batistes leben hier oben schon seit so vielen Jahren und haben alle möglichen Hurrikane überstanden. Glaub’s mir.«
»Weißt du noch, wie Mama erzählt hat, dass sich der Wind so angehört hat, als Camille gekommen ist?« Ich drücke meine Knie noch heftiger. »Elaine war nichts gegen das hier.«
»Ja, weiß ich noch.« Skeetah krault China am Kinn, und es ist, als wolle er ihr irgendetwas entlocken, denn sie reckt sich grinsend vor und versucht, ihn zu küssen. »Ich weiß noch, wie sie das gesagt hat.« Er hört auf mit dem Kraulen, beugt sich vor, um seine Ellbogen auf die Knie zu stützen, reibt seine Hände aneinander und schaut weg. »Aber ich erinnere mich nicht mehr an ihre Stimme«, sagt er. »Ich erinnere mich genau an ihre Worte, ich sehe uns, wie wir neben ihr knien, aber ich hör nur meine eigene Stimme, die die Worte sagt, nicht ihre.«
Ich möchte ihm sagen, dass ich ihre Stimme kenne. Ich möchte den Mund aufmachen und ihre Stimme herauslassen wie eine Nachahmung, möchte Mama für ihn lebendig machen, ihm zeigen, wie ich sie höre. Aber es geht nicht.
»Immerhin haben wie die Erinnerung«, sage ich. »Junior hat gar nichts.«
»Weißt du noch, was das Letzte war, was sie zu dir gesagt hat?«
Als Mama Junior geboren hat, hat sie das Kinn auf die Brust gelegt. Sie keuchte und stöhnte. Ihr Stöhnen endete in einem Fiepen, das wie das Quietschen von schlechten Bremsen klang, wenn ein Auto anhält. Aber geschrien hat sie kein einziges Mal. Skeetah, Randall und ich schauten heimlich zu, wir standen auf der Kiste einer alten Klimaanlage vor ihrem Fenster, und nachdem sie Junior hinausgepresst hatte, sobald er schrie, ließ sie den Kopf zur Seite fallen und schaute uns an; ihre Augen waren wie Spiegel, und ich dachte, sie würde uns anbrüllen, dass wir vomFenster weggehen und nicht so neugierig sein sollten. Aber das tat sie nicht. Sie sah uns. Sie blinzelte langsam. Die Haut über ihrer
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