Vor dem Sturm (German Edition)
sich da hinten bei den Stümpfen hin: Sie hat nen besseren Blick auf die Auffahrt als du, weil sie näher dran is. Wenn sie was sieht, pfeift sie. Und zwar laut, Esch. Keine Babypfiffe.«
»Ich konnte schon vor dir auf drei Fingern pfeifen, Skeet«, sage ich.
»Ich weiß«, sagt er. Er schaut dabei zu mir rüber, und er und ich wissen beide, dass er die Wahrheit sagt. »Na schön. Sind alle bereit.« Er sagt es so wie eine Feststellung, nicht wie eine Frage. Skeetah gibt uns keine Gelegenheit, nicht bereit zu sein. »Okay. Sobald ihr mich aus dem Fenster kommen seht, will ich, dass ihr alle losrennt. Dreht euch nicht um. Rennt einfach weg.«
Eine Linie führt durch uns alle hindurch. Sie zieht sich quer über das Feld, von einem zum anderen; Skeetah, der gebückt auf das Scheunenfenster zurennt, sein Rücken ein schwarzer Ball. Ich auf einem kleinen Hügel, Grasbüschel ungleichmäßig um mich herum verteilt, wie eine Schlange hinter den Baumstümpfen auf der Lauer liegend. Randall hinter mir im Wald, geduckt hinter einem breiten, niedrigen Gebüsch, dessen Blätter die Größe meiner Fingernägelhaben. Und Big Henry und Junior noch weiter entfernt hinter Randall. Als ich von ihnen wegging, wippte Big Henry auf seinen Füßen vor und zurück, und Junior hockte ein Stück weiter auf dem Boden, die Füße zu einem Y gespreizt, und stocherte mit einem Stock in den Kiefernnadeln herum, um sie zu Spitzdächern aufzustellen.
Die Kühe reißen büschelweise das Gras aus, sie fressen unaufhörlich, kauen und schlucken und rupfen. Die Reiher schlagen mit den Flügeln, gehen in kleinen Paaren über die Wiese. Einer verlässt seinen Partner, um zu mir herüberzuspazieren. Nach jedem Schritt pickt er, sodass sein Schnabel wie ein drittes Bein ist. Er führt ihn näher heran. Ich zische ihm zu, damit er stehen bleibt. Er ist weißer als die anderen Reiher. Seine Federn sind weich und flaumig, als wäre er noch jünger, erst kürzlich geboren; ein flauschiger, warmer Körper pulsiert unter den Daunen. Ich zische noch einmal, und er läuft weg, wird zum flatternden Kopfkissen. Die Kühe beachten Skeetah gar nicht, als er an ihnen vorbeirennt, es sei denn, er kommt ihrer Salatplatte zu nah – dann galoppieren sie ein paar Meter weiter und kommen wieder zur Ruhe. Skeetah kriecht unter dem Zaun durch auf die andere Seite und sprintet zu dem Fenster, das er mir gezeigt hat. Er ist ein hüpfender Schatten. Seine Hand geht zu seinem Gesicht und wieder weg, und daran erkenne ich, dass er wohl die Rasierklinge aus dem Mund genommen hat. Er springt hoch, zieht sich nach oben auf die Fensterbank und stützt sich dabei mit den Füßen an der Wand ab. Dann macht er sich am Fenster zu schaffen. Meine Unterarme fühlen sich gerötet und matschig an.
»Was macht er denn?« Ich will ihn zur Eile antreiben, steigere mich hinein. »Los, Skeet, mach schon.«
Er zieht und zerrt, aber das Fenster geht nicht auf. Er rutscht an der Wand nach unten und führt wieder die Hand zum Gesicht. Dann nimmt er den Saum seines T-Shirts, zieht es sich über denKopf, wickelt es um seinen Arm und springt wieder auf die Fensterbank. Während er sich mit einer Hand festhält, stößt er mit dem T-Shirt-bedeckten Ellbogen gegen die Scheibe. Sie kriegt einen Sprung. Er stößt noch einmal zu, und sie geht in Scherben. Skeetah besteht nur noch aus Unterarmen und Knien, abgeschnittenen Oberschenkeln und verdrehten Schultern, dann ist er so schwarz wie das dunkle Innere der Scheune, und dann ist er verschwunden.
»Gott sei dank«, flüstere ich dem Reiher zu, der sich weigert, wegzugehen und neben meinem Fuß verdächtig im Kreis herumpickt.
Soweit ich sehen kann, ist die Straße frei. Die Bäume bewegen sich und wirken von ferne wie ein glänzender, grüner Vorhang, in dessen Mitte die Straße sich zu einem dunkelgrünen Samtstreifen verjüngt. Ich starre darauf, versuche, etwas zu erkennen, fahre mit der Zunge immer wieder über meine Lippen, rolle meine Zunge ein, um bereit zu sein. Mein Arm fühlt sich an, als sterbe er ab, deshalb rolle ich mich auf die Seite und schaue weiter auf die Straße. Ist da etwas Blaues, blitzt dort Metall auf wie ein verglühender Stern? Aber es ist nichts. Ich zische dem Vogel noch einmal zu, frage mich, warum Manny nicht vorbeigekommen ist, frage mich, ob er je wiederkommen wird, ob er beim nächsten Mal mehr von mir will. Ob ich ihn noch mal dazu bringen kann, mir in die Augen zu schauen. Nicht von mir fortzugehen.
Der Schmerz
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