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Vor dem Sturm (German Edition)

Vor dem Sturm (German Edition)

Titel: Vor dem Sturm (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesmyn Ward
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Bruder. Am Anfang kennt ihr Neffe, der den Argonauten von ihr erzählt, sie als mächtige Frau, die ihrer Familie hilft, genau wie ich versucht habe, Skeet zu helfen, an dem Tag, als China von dem Ivomec krank wurde. Aber bei Medea geht die Hilfe wegen der Liebe schief. Der Autor schreibt, es gibt zwei verschiedene Versionen, wie es passiert ist. Die eine besagt, dass sie ihren Bruder belogen und ihn zu den Argonauten auf das Schiff eingeladen hat, als sie geflohen sind, und dass Jason ihm aufgelauert hat. Dass sie ihren Bruder sterben sah, ihr eigenes Gesicht auf seins gelegt hat, das aufgeschlitzt wurde wie ein Huhn: rosige Haut zu blutigem Fleisch zerhackt. Die andere Version besagt, dass sie ihren Bruder selbst umbringt, dass ihr Bruder mit ihr und den Argonauten flieht, sich in Sicherheit wähnt, und sie ihn in Stücke hackt: Leber, Magen, Brust und Schenkel, und die Teile einzeln über Bord wirft, damit ihr Vater, der sie verfolgt, langsamer fährt, um die Körperteile seines Sohnes aufzusammeln.
    Ich lese das immer wieder. Es kommt mir so vor, als läge sie bei mir unter der Bettdecke, als schwitzten wir beide, bis wir Wasser sind. Um ihr zu entkommen, Mannys Geruch zu entkommen, der nach einer Nacht und einem Morgen immer noch an mir klebt, stehe ich auf.
    Junior sitzt im Flur vor meiner Tür auf dem Fußboden.
    »Wieso sitzt du hier?«
    Junior zuckt die Achseln, schaut zu mir hoch.
    »Ich wollte rausgehen, aber Skeetah will China waschen, und dann wird’s schlammig unter dem Haus. Wieso bist du nicht aufgewacht?«
    »Ich war müde.«
    »Daddy hat gefragt, wieso du ihm heut Morgen nichts zu essen gebracht hast. Randall hat ihm gesagt, dass es dir nicht gut geht.«
    »Hat Randall für Daddy Eier gemacht?«
    »Jepp.«
    »Was macht er jetzt?«
    »Schläft. Er hat rumgebrüllt wegen dem Hurrikan, meinte, er hört nich auf. Dass die Frau in den Nachrichten sagt, er kommt direkt auf uns zu. Randall hat gesagt, er soll sich beruhigen. Er und Big Henry sind zum Laden gefahren und haben Bier geholt, und dann is Daddy eingeschlafen.«
    Junior folgt mir über den Flur zu Daddys Zimmer. Randall hat eine Decke vor das Fenster genagelt. Er hat sie einmal gefaltet und über dem Lüftungskasten aufgehängt, der summt und Licht hereinlässt. Daddy schläft im Sitzen, nach vorne gekrümmt, so wie ich ihn gestern zurückgelassen habe. Der Fernseher ist leise gestellt, er knistert wie ein Silvesterkracher. Auf dem Bildschirm sieht man eine Karte vom Golf, und Katrina dreht sich wie ein Kreisel, den der lange Arm von Florida gerade in Gang gesetzt hat. Neben dem Bett stehen zwei Bierdosen, eine davon ist offen, beide sind beschlagen. Ich mache die Tür bis auf einen Spalt zu.
    »Gehst du zu dem Kampf?«
    Junior berührt meinen Oberarm, und ich bleibe vor dem Badezimmer stehen. Er kneift mich, und ich schaue zu ihm hinunter, sehe seine großen dunklen Augen, die Zahnlücken, die langen Wimpern. Er reißt die Augen noch weiter auf, voller Hoffnung.
    »Hm, Esch? Bitte!«
    »Wer hat dir die Haare geschnitten?«
    »Randall hat sie mir heut Morgen abrasiert. Er meinte, es is zu heiß für Haare.«
    »Da hat er recht.« Ich lege eine Hand auf seinen Glühbirnenkopf und schüttele ihn leicht.
    »Esch.« Er grinst und sieht aus wie Skeet auf dem Bild in Daddys Zimmer. Die Luft ist dick, so dick wie das Wasser in der Grube.
    »Na gut«, sage ich. »Gehen wir hin.«
    Ich setze mich seitwärts aufs Klo und lege die Arme auf die Fensterbank; mein Körper fühlt sich an, als sei ich überall von Katzenwelsen gestochen worden, mein Bauch kommt mir vor wie ein Senkblei. Vor dem Schuppen fühlt Skeetah mit einer Hand die Temperatur des Wassers aus dem Schlauch: Es ist so heiß draußen, dass das Wasser garantiert schon kocht, wenn es aus dem Hahn kommt. Für China wird er das Wasser laufen lassen, bis es kalt wird. Als Skeetah China zum ersten Mal bespritzt, zittert sie. Sie steht breitbeinig und mit geradem Rücken da, den Kopf hoch erhoben. Sie leckt an dem Wasserstrahl, und es ist, als wäre sie nie krank gewesen. Sie sieht so kokett aus wie ein Mädchen mit Lutscher im Mund, wie sie da an dem Schlauch schleckt. Sie niest und schließt die Augen, und der Dreck läuft flächig an ihren Seiten hinunter. Es ist das erste Mal seit Tagen, dass ich sie ohne Leine sehe.
    »Auf geht’s«, sagt Skeetah. »Gleich wirst du wieder glänzen.«
    Skeetah stellt das Wasser ab, nimmt eine fast leere Flasche Geschirrspülmittel und gießt den Rest über ihrem

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