Vor dem Sturm
Mitte des Monats sehe. Meine flüchtige Antwort darauf war keine Antwort. Laß mich versuchen, Versäumtes nachzuholen.
Diese und die letzte Woche, wie Du aus den Zeitungen ersehen haben wirst, haben allerlei Dinge von Wichtigkeit gebracht; was Papa mir schrieb, hat sich bestätigt. Der Einsegnung des Kronprinzen folgte die Abreise des Königs nach Breslau; der ganze Hof begleitete ihn, auch die Garden. Potsdam ist seitdem wie ausgestorben, wovon wir uns bei Gelegenheit einer nach Lehnin hin unternommenen Partie durch den Augenschein überzeugen konnten. Von dieser Partie, die letzten Dienstag stattfand, möchte ich Dir nun wohl erzählen. Du weißt, oder vielleicht auch nicht, daß Lehnin ein altes Zisterzienser-Kloster ist; die meisten der Askanier wurden dort begraben, auch einige von den Hohenzollern; Johann Cicero, wenn ich nicht irre, und Joachim Nestor. Aber diese beiden standen kaum in ihrer Gruft, so kam die Säkularisation, und ihre großen Metallsärge wanderten aus der Klosterkrypta in die Krypta des Berliner Doms. Es gibt auch eine Lehninsche Weissagung, ›Vaticinium Lehninense‹, hundert lateinische Verse, die den Untergang der Hohenzollern und die Wiederaufrichtung des katholischen Glaubens in Mark Brandenburg prophezeien; aber alles sehr dunkel und unbestimmt, so daß man, wie so oft, bei einigem guten Willen auch gerade das Gegenteil herauslesen kann. Auf dieses Lehnin nun war in voriger Woche das Gespräch gekommen, und der Geheimrat, der einige Verse aus der ihm durch unseren alten Direktor Bellermann vor Jahr und Tag schon bekannt gewordenen Weissagung rezitierte, verriet plötzlich einen lebhaften, an ihm ganz ungewohnten Enthusiasmus, das Kloster kennenzulernen. Bei aller Hochachtung gegen ihn möcht ich im Vorübergehen doch die Vermutung aussprechen, daß er sich in dem Gedanken gefiel, an Ort und Stelle seine Vorträge fortsetzen und uns durch eine Art mittelalterlicher Klassizität imponieren zu können. Aber sein Enthusiasmus hielt nicht vor, und als der Dienstag herankam, stand er von der Teilnahme ab. Jürgaß war schon vorher zum Reisemarschall ernannt worden. Natürlich durch Kathinka. Außer ihr und dem engeren Ladalinskischen Kreise waren die Grafen Matuschka, Seherr-Toß und Zierotin samt ihren jungen Frauen mit von der Partie. Es gab eine Überraschung nach der andern; Jürgaß bewährte seinen alten Ruf als Festordner; die Matuschka war reizend, und ich hatte den Triumph, Kathinka eifersüchtig zu sehen. Auf der Rückfahrt fuhren wir eine hübsche Strecke zusammen. Ich sagte ihr herzliche Worte, vielleicht mehr als das, und sie nahm sie freundlich auf. Bninski verläßt uns bald; er geht auf seine Güter und von da nach Warschau, um sich dem Vizekönig, mit dem er befreundet ist, zur Verfügung zu stellen. Zu Poniatowski steht er nicht gut. Es wäre Torheit, wenn ich wegleugnen wollte, daß ich den Tag seiner Abreise herbeiwünsche. Kathinka zeichnet ihn aus; aber es ist nicht ihre Art, sich mit Abwesenden zu beschäftigen oder Erinnerungen zu leben. Sie gehört der Stunde, und die Stunde, so scheint es, ist mir günstig. Ich glaube wieder an die Möglichkeit meines Glücks. Sie schrieb mir neulich: ›Sieh nicht Gespenster, Lewin.‹
Und nun laß mich fragen, wie steht es in Hohen-Vietz? Was machen die Freunde: Seidentopf, die Schorlemmer, Marie? Denke Dir, ich träumte diese Nacht von ihr, und als was sah ich sie? Als Braut. In einem langen, langen Schleier stand sie vor dem Altar; aber es war nicht der Altar der Hohen-Vietzer Kirche. Ihr Kleid war weiß und leicht wie der Schleier und mit Sternchen übersät. Sie sah sehr schön aus, und wer meinst Du, daß ihr Bräutigam war? Drosselstein. Nicht unser alter, sondern ein junger; groß und schlank und in eine Uniform gekleidet, in der ich unseren Hohen-Ziesarschen Freund nie gesehen habe. Als ich mich heute früh des Traumes entsann, mußt ich an das denken, was Du so oft über Marie gesagt hast: Du würdest dich nicht wundern, eine goldene Kutsche bei Kniehases vorfahren und die kleine Prinzessin mit verweinten und zugleich freudestrahlenden Augen neben ihrem Prinzen Platz nehmen zu sehen. Du hast ihr Wesen darin getroffen. Es war doch nur in der Ordnung, daß sie Othegravens Antrag ablehnte. Damals mißbilligte ich es; es schien mir eine Unklugheit, wenn nicht Schlimmeres. Aber ich hab ihr unrecht getan. Er ist aus Münsterland, und sie ist aus Feenland, und alles Westfälische ist der letzte Fleck der Erde, mit dem sich
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