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Vor dem Sturm

Vor dem Sturm

Titel: Vor dem Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Theodor Fontane
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durch das eine Wort »Wöchnerin« kategorisch ab. Das half. Tante Schorlemmer wurde noch verlegener als Renate.
    Unter dem Vorbau hielt bereits der Wagen des Alten. Er schickte sich eben an hinaufzusteigen, als er seinen Fuß von dem Tritteisen wieder zurückzog. »Der alte Leist wird alt; hätte die Hauptsache beinahe vergessen«, und dabei begann er in den Tiefen seiner Manteltasche herumzusuchen. Endlich fand er ein dickes, rotledernes Notizbuch, das zugleich als chirurgisches Besteck diente, und nahm einen Brief heraus: »An Renate von Vitzewitz.«
    Nun erst stieg er auf. »Auf Wiedersehen in Hohen-Vietz.« Renate und die Schorlemmer erwiderten seinen Gruß.
    Der Brief aber war von Marie.
     
Viertes Kapitel
     
Genesen
    Und es kam alles, wie Doktor Leist gesagt hatte. Am andern Morgen verlangte Lewin aufzustehen und fühlte sich trotz aller Mattigkeit doch kräftig genug, das Zimmer zu verlassen und unten unter dem Vorbau von Renate und Tante Schorlemmer Abschied zu nehmen. Es war des Krügers Gespann; Kemnitz selber fuhr. Er zeigte sich quicker, als seine Gewohnheit war, und als Renate auf ihn hinwies und der Krügersfrau ein gutgemeintes Wort über seine Raschheit ins Ohr flüsterte, sagte diese nicht ohne einen gewissen Stolz: »Oh, er kann schon. Aber er läßt es an sich kommen. Und das ist es eben.« In der nächsten Minute nahmen beide Damen ihre Plätze; Kemnitz hakte das Schutzleder ein und stieg nun auch seinerseits über das Rad weg auf den Kutschersitz ohne Lehne. Noch ein Händedruck, und der Wagen verschwand an der andern Seite der Kirche.
    Lewin ging in sein Zimmer zurück. Er hatte sich mehr angestrengt, als seine Kräfte zuließen, und warf sich jetzt angekleidet aufs Bett, nicht um zu schlafen, wohl aber um zu ruhen. Allerhand Bilder zogen an ihm vorüber, wechselnd und phantastisch, aber immer eines aus dem andern sich gestaltend. Er sah Frau Hulens dunkle Küche und den kleinen Wachsstock, den er in der Herdasche mit so viel Mühe angezündet hatte, und aus dem Wachsstock ward eine Kerze, und aus der Kerze wurden zwölf Kerzen, und alle zwölf brannten zu beiden Seiten eines Sarges, darin lag die Tante, die schwarze Witwenhaube tief in die Stirn gerückt. Und neben dem Sarge standen kleine Zypressenbäume, die wuchsen und wuchsen hoch wie Pappeln, und nun war es eine Pappelallee, und zwischen den Pappeln kam ein Wagen rasch herangefahren, dem lief er nach und wollte rufen, aber die Stimme versagte.
    Alles dies kam und ging, und kam wieder, ohne daß es ihn ernstlich beunruhigt hätte. Ein Druck lag auf ihm, bleiern, aber schmerzlos, und unter dem Einfluß einer beinahe süßen Betäubung wurde das Nächstliegende wie in weite Ferne gerückt und das Wirkliche zum Traum. Erregungen der Phantasie, nichts weiter, und von Empfindungen nur eine: die Sehnsucht nach Hohen-Vietz.
    Und nun war wieder ein Tag und eine Nacht vergangen; der helle Morgen schien in die Fenster, und es mochte die zehnte Stunde sein. Krist, der bald nach Mitternacht mit dem Planschlitten und einer ganzen Winterausstattung von Pelzröcken, Shawls und Filzstiefeln eingetroffen war, war bereits im Stalle beschäftigt, den beiden Braunen die Sielen und die Geläute aufzulegen, und die Krügersfrau stand in der Stalltür, ebensosehr, um selbst noch zu erzählen, wie um Hohen-Vietzer Neuigkeiten gegen ihre Bohlsdorfer einzutauschen.
    Lewin saß reisefertig in seinem Zimmer, während diese Gespräche geführt wurden. Er hatte schon einen Morgenspaziergang gemacht, nicht ins Freie hinaus, nur in die Kirche hinüber, um noch einmal den Grabsteinspruch zu lesen, den er längst auswendig wußte. Seit einer halben Stunde war er von da zurück und hielt ein zusammengefaltetes Blatt in Händen, dessen Inhalt ihn zu beschäftigen schien. Es war Marie Kniehases Brief, den er sich am Tage vorher, im Momente von Renatens Abreise, von dieser erbeten hatte. »Ich will ihn doch noch einmal überfliegen«, sagte er, beugte sich gegen das Fenster vor und las mit halblauter Stimme:
     
    »Liebe Renate!
    Deinen Brief habe ich gestern abend, wo Doktor Leist bei uns vorfuhr, erhalten. Um mit ihm noch persönlich zu sprechen, dazu war keine Zeit; er wollte bei der späten Stunde gleich weiter. Ich las und lief dann in meiner Herzensfreude zum Pastor, der kaum weniger freudig bewegt war als ich. Und doch ist es etwas Trauriges. Du schreibst: ›Warum er Berlin verlassen hat?‹ und fügst dann hinzu: ›Darüber habe ich nur Vermutungen, und auch diese

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