Vor dem Sturm
kaum.‹ Ach, meine liebe Renate, ich weiß es, und in Traum und Wachen habe ich diese Stunde kommen sehen.
Hier ist alles still, viele Bauern und ihre Frauen sind zum Begräbnis Deiner Tante hinüber. Denn sie war doch auf ihre Art beliebt, und jeder sprach von ihr. Auch Seidentopf ist seit einer Stunde fort. Er will erst nach Guse, dann nach Küstrin und Hohen-Ziesar, und wir erwarten ihn erst am Schluß der Woche zurück. Welche seltsame Trauerversammlung wird um den Sarg der Tante stehen! Bamme, Rutze, Doktor Faulstich. Und denke Dir, auch Jeetze trauert. Es rührte mich fast, als ich ihn heute sah. Er hat ein Paar schwarze Gamaschen hervorgesucht, ›noch von der gnädigen Frau her‹, sagte er, und einen Flor.
Meine Gedanken sind beständig bei Euch; sie wandern von einem Giebelzimmer in das andere, und mir ist immer, als kennte ich das Dorf. Es ist dasselbe, von dem uns Lewin am ersten Feiertage erzählte, und ich sehe noch alles vor mir: den Christbaum mit der jungen, hübschen Krügersfrau und den Blondkopf und dann die dunkle Kirche mit der Stehleiter am Altar und der kleinen Handlaterne. Und vor dem Altar liegt der Grabstein mit dem schönen Spruch, den ich mir seitdem wohl hundertmal vorgesprochen habe. Mir ist dann immer, als wüchse ich und könnte fliegen.«
Hier hielt Lewin einen Augenblick inne und wiederholte sich die Worte: als wüchse ich und könnte fliegen. »Wie gut sie es trifft«, setzte er hinzu. Dann nahm er das Blatt, das er aus der Hand gelegt hatte, wieder auf und las bis zu Ende.
»Gebe Gott, daß sich des alten Leist Prophezeiungen erfüllen; er hat versprochen, diese Zeilen wieder mit zurückzunehmen, und ich schicke sie durch Hoppenmarieken nach Lebus. Sie wartet draußen und stößt mit ihrem Stock auf die Flurfliesen, ein Zeichen, daß sie ungeduldig wird. Ich fürchte mich viel zu sehr vor ihr, um ihre schlechte Laune noch wachsen zu lassen. Und so lebe denn wohl, meine einzig geliebte Renate, mein Glück, mein Stolz und meine Zuversicht. Grüße die Schorlemmer, und wenn Lewin die Augen aufschlägt, so denke recht innig auch an mich. Dann fühl ich es in meinem Herzen.
Deine
Marie
«
Lewin, als er zu Ende gelesen, erhob sich und trat an den Zeisigbauer, um dem Vögelchen, das ihm die langen Stunden des voraufgegangenen Tages so freundlich weggezwitschert hatte, zu Dank und Abschied ein Zuckerstückchen zwischen die Stäbe zu stecken.
Er wollte sich eben wieder setzen, als Krist eintrat, um zu melden, daß alles fertig und der Schlitten vorgefahren sei. Zugleich bepackte er sich mit der ganzen Winterausstattung, die unangerührt auf der Bettdecke liegengeblieben war, und stapfte wieder treppab, während Lewin ihm folgte. Auf der Türschwelle blieb dieser noch einmal stehen und sah in das Zimmer zurück. Er war nicht erschüttert, auch nicht eigentlich bewegt (die Nachwehen der Krankheit hielten ihn noch in ihren Banden), aber aller Apathie zum Trotz empfand er doch deutlich, was ihm die hier verbrachten Tage gewesen waren und daß ein Leben hinter ihm versank und ein anderes begann.
Unten stand die Krügersfrau. Kemnitz war noch nicht zurück, aber ihr Prachtstück, den Blondkopf, hielt sie auf ihrem Arme. Sie konnte sich zum Abschiede nicht besser präsentieren, wußt es auch und lachte herzlich und gefallsüchtig, bis ihr Lewin die Hand reichte und Dankesworte sprach, wobei sie sofort ebenso leidenschaftlich wie krampfhaft zu schluchzen begann. Denn trotzdem sie auf dem Amte hochdeutsch erzogen und im Konfirmandenunterricht bei Pastor Lämmerhirt viel spruchfester gewesen war als ihre kleine Freundin, so hatte sie sich doch die naturkindliche Kraft bewahrt, in jedem passend erscheinenden Moment einen Strom von Tränen vergießen zu können. Lewin, der diese Naturkraft von den Hohen-Vietzer Bauerfrauen her kannte, machte nicht mehr davon, als es wert war, streichelte das Kind, das mit der Hand freundlich nach ihm haschte, und stieg dann hinter den Pferden fort auf die Deichsel des Schlittens. »Und nun vorwärts, Krist.« Dabei drückte er sich bequem in die zu einer Rückenlehne fest zusammengepackten Strohbündel, und in raschem Trabe ging es um die Kirche herum, an den nächsten Gehöften vorbei, in die sonnenbeschienene Landschaft hinein.
Es war ein wundervoller Tag, frisch und doch nicht kalt; am Horizont standen dunkle Streifen von Tannenwald, und dazwischen zeigten sich die Spitztürme verschiedener Ortschaften und Dörfer. Einige davon wurden passiert, und
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