Vor Jahr und Tag
stehen sehen. Oder besser, die Ladies.
»Wie heißt du mit Vornamen?« erkundigte sich Chastain, als das Törtchen auf seinem Teller beinahe verschwunden war.
»Antonio.«
»Nun, Antonio, du mußt dir vorstellen, daß Augenzeugen ohnehin schon durcheinander sind; es wäre falsch, sie noch mehr unter Druck zu setzen. Man muß sie beruhigen, damit sie wieder richtig denken können, höflich und freundlich sein, damit sie sich nicht bedroht fühlen und einem Dinge vorenthalten.« Er hielt inne und nahm einen Bissen. »Sagen wir mal, da sind ’n paar Kids, die wo waren, wo sie nicht hätten sein sollen, und die haben was gesehen. Wenn die jetzt Angst haben, dann lügen sie, um ihre Ärsche zu retten, weil sie wissen, daß ihre Alten stinksauer sein werden. Man muß sie also beruhigen. Falls notwendig, auch mit den Eltern reden, damit sie die Kinder nicht so einschüchtern, daß sie überhaupt nix mehr sagen. Wenn das der Fall ist, hast du gar nichts mehr.«
Shannon kannte die Verhörmethoden: Immer verständnisvoll, ja mitfühlend. Vielleicht hat man’s ja mit einem Typen zu tun, der seine Frau zu Tode geprügelt hat. Man sagt also: »Mann, ich weiß, wie Sie sich fühlen. Manchmal geht mir meine Alte so auf den Keks, daß ich ein Loch in die Wand schlagen könnte, wissen Sie?« Was spielte es für eine Rolle, daß man log? Das wußte der Scheißkerl ja nicht. Er hat Schiß, er ist total von der Rolle, er hat die Beherrschung verloren und seine Frau getötet, er steckt also ganz tief in der Scheiße. Ein freundliches Wort konnte da genügen, um bei ihm den Hahn aufzudrehen. Chastain benahm sich ebenso mitfühlend und freundlich, wenn es um die Befragung von Augenzeugen ging. Wahrscheinlich stolperten die Leute über ihre eigenen Füße, um sich ihm anvertrauen zu können.
»Wieviel Zeit steckst du normalerweise in einen Fall wie diesen?« erkundigte er sich neugierig bei Chastain.
»Soviel, wie der Lieutenant mich läßt.« Chastains Ton war neutral. »Wenn ich rauskriege, wer er ist, werd ich seine Familie benachrichtigen. Denen ist’s wahrscheinlich egal, aber zumindest können sie sich um seine Beerdigung kümmern.«
»Du glaubst, er war ’n Hirni?«
Chastain zuckte mit den Schultern, was bedeutete, es konnte so oder so sein. »Er sah nicht aus wie ’n Doper, nicht dürr genug. Ein paar von den Obdachlosen kriegen immer wieder Geld von ihren Familien. Das ist viel einfacher, als sich um einen Verrückten zu kümmern. Setz ihn einfach auf die Straße.«
Shannon nickte. Das war gar nicht so ungewöhnlich. Damals, in den Siebzigern oder frühen Achtzigern waren ein paar von diesen unverbesserlichen Menschenfreunden vor Gericht gezogen, um Patienten aus psychiatrischen
Anstalten rauszubekommen, mit der Behauptung, sie wären sehr wohl in der Lage, sich ins normale Leben einzufügen. Nun, das waren sie auch, solange sie ihre Medikamente nahmen. Das Problem war nur, Verrückte nahmen ihre Pillen nur, solange sie sich in einer kontrollierten Umgebung befanden, wie Anstalten sie boten. Aber draußen, im wahren Leben, vergaßen sie sehr schnell die Medikamente und wurden zu einer untragbaren Last für ihre Familien. Wenn die Belastung dann zu groß wurde, landeten viele von diesen Psychatriefällen auf der Straße, weil sie nicht in der Lage waren, einer normalen Arbeit nachzugehen oder auch nur ein normales Gespräch zu führen. Dann schlurften sie herum und führten Selbstgespräche, sie fluchten auf Passanten und erledigten offen ihre Notdurft. Sie waren perfekte Zielscheiben für brutale Straßengangs, wehrlos, wie sie waren unter all den Drogensüchtigen und kriminellen Elementen.
Etwas in Chastains Stimme alarmierte Shannon, ein kalter Unterton. »Das macht dich ganz schön sauer, stimmt’s?«
»Noch nicht. Aber wenn sich rausstellt, daß er Angehörige hat, die sich um ihn hätten kümmern können, dann werd ich sauer.«
Das war milde ausgedrückt, dennoch lief Shannon ein Schauder über den Rücken. Er erkannte schlagartig, daß Chastain trotz seiner Höflichkeit und seiner guten Manieren ein ganz mieser Hurensohn sein konnte, wenn er richtig sauer war.
Chastain sammelte die Teller ein, hielt sie kurz unters Wasser und stellte sie dann in die Spülmaschine. Nachdem er beide Tassen noch mal mit Kaffee vollgeschenkt hatte, meinte er: »Wir können den Kaffee ja mitnehmen; der Papierkram wartet nicht.« Beide seufzten.
Marc nahm sich vor, diesem Fall, falls er Zeit hatte, ein wenig intensiver
Weitere Kostenlose Bücher