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Vor Jahr und Tag

Titel: Vor Jahr und Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Howard
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die Versuchung außerdem viel zu groß. Sie lehnte den Kopf an die Kopfstütze und schloß die Augen vor der tiefstehenden Nachmittagssonne, die ihr durch die Windschutzscheibe direkt ins Gesicht schien. Kalte Luft strömte aus den
    Schlitzen der Klimaanlage und kühlte ihre Handgelenke und ihren Hals. Sie fühlte, wie sich ihre Anspannung allmählich löste.
    Schlafen konnte sie nicht, aber es war gut, ein wenig auszuruhen. Obwohl sie auf die Identifizierung vorbereitet gewesen war, hätte sie nicht erwartet, daß es so schwer werden würde. All die Jahre, in denen sie sich im Stich gelassen gefühlt hatte, all die gebrochenen Versprechen - eigentlich hätte sie sich nicht anders fühlen sollen, als wenn sie, sagen wir mal, einen Nachbar identifiziert hätte. Aber so war’s nicht gewesen.
    Obwohl sie Dexter schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, erkannte sie ihn sofort wieder, ohne den leisesten Zweifel. Sein Haar war ein wenig grauer, aber sein Gesicht, das eigentlich vom Alter gezeichnet hätte sein müssen, war vom Tod geglättet worden. Sie hatte das zuvor schon beobachtet, daß man am Ende seines Lebens gleichsam verjüngt aussah, als würde der Tod die Linien, die das Leben einem ins Gesicht grub, irgendwie fortwaschen, als würde man tatsächlich Frieden finden. Seine gebrochene Nase war noch dieselbe, immer noch dieselbe leichte Rechtsneigung. Genauso bekannt war ihr sein Kinn, lang und schmal, und die gerade Linie seiner Brauen; die tiefliegenden Augen und hohen Wangenknochen, die sie von ihm geerbt hatte, und die langen, schlanken Finger.
    Das saubere kleine Loch in seiner Stirn dagegen war neu.
    Sie hatte versucht, das Ganze als Krankenschwester zu sehen, doch alles in ihr sträubte sich dagegen. Sie wäre am liebsten vom Stuhl gesprungen und aus dem Zimmer gerannt, irgendwohin, bloß nicht hierbleiben. Doch sie hatte statt dessen die Hände ineinandergekrampft, so fest, daß sich ihre Nägel in die Handflächen gruben, und sich gezwungen, ruhig zu sprechen. Sie hatte gehofft, daß mit ihrer Identifizierung die Vorführung zu Ende wäre, doch der Doktor hatte das Band weiterlaufen lassen und mit seiner monotonen Stimme Kommentare dazu abgegeben.
    Gott sei Dank hatte Detective Chastain ihn unterbrochen. Das Videoband konnte nicht mehr als ein paar Minuten gelaufen sein, aber ihr kam es vor wie Stunden. Wie erstarrt war sie auf ihrem Stuhl gesessen, unfähig zu sprechen oder sich zu bewegen, bis Chastain ihre Erstarrung durchbrach, indem er sich zu Wort meldete. Schwindlig vor Erleichterung, hatte sie sich daraufhin tatsächlich zu ihm hingelehnt, obwohl ihr gar nicht bewußt war, daß sie schwankte, doch auf einmal war sein Gesicht ganz nah bei ihrem gewesen, die Arme geöffnet, um sie aufzufangen, falls sie vom Stuhl kippen sollte. Nachdem sie in seinem Büro beinahe ohnmächtig geworden wäre, wollte er offenbar nichts riskieren. Verlegen war sie daraufhin auf die Füße gestolpert, um ihm zu zeigen, daß mit ihr alles in Ordnung war.
    Was ihn jedoch nicht überzeugt haben konnte, denn er flößte ihr noch eine weitere Cola ein. Sie fragte sich mittlerweile, ob sie sich vielleicht total in ihm getäuscht hatte, ob ihr ihre angegriffenen Nerven Feindseligkeit vorgegaukelt hatten, wo gar keine war, denn nun kam er ihr wie ein richtig netter Mann vor. Falls er sie wirklich nicht mochte, dann verbarg er es sehr gut, und sie war so müde, daß es ihr eigentlich egal war. Sie hatte etwas zu essen gebraucht, und Schlaf brauchte sie dringend. Morgen, wenn sie sich richtig ausgeruht hatte, würde sie wieder sie selbst sein, aber im Moment war sie dankbar für Chastains Hilfe.
    Dexter zu bestatten war das Vernünftigste, was sie tun konnte, bis sie zu Hause alles arrangiert hatte. Sie vermutete, daß es Orte gab, an denen man seine Leiche aufbewahren konnte, aber wie viele Fehler Dexter auch gehabt haben mochte, und das waren nicht wenige, so war er dennoch ein Mensch gewesen, ein Mann, ein Ehemann und Vater, nicht bloß ein toter Fleischklumpen. Er verdiente eine würdige Bestattung, verdiente ein paar Gebete und Fürbitten, bevor er in die Grube heruntergelassen wurde.
    Sie verspürte auf einmal eine große Erleichterung und wußte nun, daß sie das Richtige tat.
    Das Funkgerät des Detectives knackte mehrmals und riß sie aus ihrem Halbschlaf, doch sie behielt die Augen geschlossen. Er sprach mit ruhiger Stimme ins Mikro, und wieder kam es ihr vor, als würde sie seine Stimme zum ersten Mal hören. Wenn

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