Vor Jahr und Tag
sie ihn ansah, achtete sie nicht so sehr auf seine Stimme, wie sie jetzt erkannte; dafür besaß er eine viel zu starke physische Präsenz, nicht etwa, weil er so gut aussah, sondern wegen der enormen Willenskraft, die er ausstrahlte. Er zügelte seine innere Intensität, aber man sah sie dennoch aus seinen schmalen, durchdringenden Augen hervorblitzen.
Jetzt jedoch floß seine Stimme wie warmer Honig über sie hinweg. Sie achtete nicht auf die Worte, nur auf seinen Tonfall. Seine gedehnte Sprechweise wirkte entspannend, als ob er überhaupt keine Eile kenne. Wenn er »wo« sagte, dann klang es, als hätte das Wort zwei oder sogar drei Silben. Wenn er sich im Bett ebensoviel Zeit nahm, wie beim Reden, dann mußte er ... Der plötzliche Gedanke schockierte sie, und sie riß erschrocken die Augen auf. Sie wagte nicht, ihn anzusehen, obwohl sie sich überdeutlich bewußt war, daß er nicht mehr als vielleicht dreißig Zentimeter von ihr entfernt saß.
Ihre Wangen brannten. Wo um Himmels willen war bloß dieser Gedanke hergekommen, und ausgerechnet jetzt? Sie stellte nie Spekulationen über die sexuellen Fertigkeiten von Männern an. Eigentlich spekulierte sie über-haupt nicht, wenn es ums starke Geschlecht ging. Ihrer Ansicht nach war von einem Bett ins andere zu hüpfen das Dümmste, was man tun konnte, und mittlerweile außerdem noch lebensgefährlich. Sie hatte sich nie viel mit Männern verabredet und seit Jeanettes Tod überhaupt nicht mehr.
Um die Wahrheit zu sagen, hatte sie es immer vermieden, sich emotional auf einen Mann einzulassen, weil sie ihnen einfach nicht vertraute. Sie hatte Angst davor, ihr Herz zu riskieren, so wie ihre Mutter; sie wollte nicht ihr Leben verschwenden, indem sie einen Mann liebte, der diese Liebe nicht erwiderte. Hatte sie vielleicht ihr Leben verschwendet, weil sie nie einen Mann geliebt hatte?
Sie kam sich mit einemmal richtig töricht vor und war wütend auf sich selbst. Nicht alle Männer waren gleich, das wußte sie. Ihr Vater mochte sie ja verlassen haben, aber sie kannte viele Männer, die ihren Ehefrauen und ihrer Familie treu ergeben waren. Aber emotional war sie nie über die stille Angst und Verzweiflung ihrer Kindheit hinweggekommen. Erst gestern, nein, heute morgen, oh Gott, es kam ihr vor, als wäre dieser Tag schon ein Jahr lang, und er war noch nicht zu Ende, hatte sie beschlossen, sich nicht länger von vergangenen Dingen herunterziehen zu lassen. Sie hatte angefangen, Pläne für ihre Wohnung und ihre Karriere zu machen, aber ein Mann war in diesen Plänen nicht vorgekommen.
Wie dumm konnte ein Mensch eigentlich sein? Warum war ihr das nicht schon früher aufgefallen? Sie weigerte sich, sich selbst um einen Ehemann, um Kinder, eine Familie zu betrügen, bloß weil ihr Vater ein so miserables Beispiel gewesen war. Wenn das hier vorbei und sie wieder zu Hause war, würde sie anfangen, ein paar von den Einladungen anzunehmen, die immer mal wieder von einigen recht netten Männern kamen. Es war Zeit, einem von ihnen die Chance zu geben, mehr als nur ein beiläufiger Freund zu sein.
So gesehen war sie froh um den ungebetenen kleinen Gedanken über Detective Chastain, denn er hatte diese wichtige Selbstanalyse ausgelöst. Und wahrscheinlich ist er tatsächlich gut im Bett, dachte sie trotzig. Was immer er persönlich auch von ihr halten mochte, er gab sich große Mühe, die Dinge für sie so einfach wie möglich zu machen. Eine ihrer Kolleginnen auf der chirurgischen, Piper Lloyd, sagte immer, man erkannte, ob ein Mann ein guter Lover war, wenn man ihn bei der Arbeit beobachtete. Einige Ärzte - okay, die meisten, wenn sie ehrlich war - hielten sich für Gottes Geschenk an die Frauen, aber nach Pipers Theorie waren sie viel zu arrogant und viel zu sehr in Eile. Wenn sie sich für ihre Patienten nicht die nötige Zeit nahmen, dann nahmen sie sich höchstwahrscheinlich auch im Bett nicht genug Zeit.
Piper wäre begeistert von dem Detective, dachte Karen schläfrig. Sie würde längst mit den Wimpern klimpern und ihren schwarzen Pagenkopf aufplustern, aber Piper war ja auch eine kampferprobte Veteranin auf den Schlachtfeldern der Liebe. Sie war vorsichtig, wenn es um Sex ging, aber nicht scheu, wenn es galt, sich zu nehmen, was sie wollte.
Karen dagegen war Welten entfernt von Piper. Sich zu verabreden, einem Typen eine Chance zu geben, war schon ein großer Fortschritt für sie.
»Sind Sie verheiratet?« Sie riß die Augen auf, als ihr diese Worte einfach so
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