Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Vor Jahr und Tag

Titel: Vor Jahr und Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Howard
Vom Netzwerk:
rannte.
    Doch noch verloren zu haben war bitter. Genau das hatte er befürchtet. Er war hin- und hergerissen gewesen zwischen der Notwendigkeit, alles richtig zu machen, damit der Bastard nicht wegen eines Verfahrensfehlers davonkam, und dem Bedürfnis, sich zu beeilen, jetzt sofort etwas zu unternehmen. Nur zwei Stunden mehr, und er hätte einen Haftbefehl in der Hand gehabt, und Mr. Gable wäre hinter Gittern gewesen. Mrs. Gable hatten diese zwei Stunden das Leben gekostet.
    Als er beim Haus ankam, war die breite, baumgesäumte Straße mit Polizeiautos verstopft. Hitze und Feuchtigkeit legten sich wie eine Decke über ihn, als er den Vorweg entlangging und dann die kühle, hohe Eingangshalle des eleganten Hauses betrat. Eine ohnmächtige Wut erfüllte ihn, aber er schob das Gefühl energisch beiseite, um seinen Job erledigen zu können, was immer das Mrs. Gable jetzt auch noch nützen mochte.
    »Wo?« fragte er eine Polizeibeamtin.
    »Oben.« Die Frau wirkte geschockt.
    Er stieg die breite, geschwungene Treppe hinauf und folgte dem Durcheinander bis zu einem Schlafzimmer. Der Raum war riesig, vielleicht neunzig Quadratmeter groß. Er sah aus wie die kitschige Version eines Schlafzimmers in einem europäischen Adelshaus. Über dem riesigen Bett hingen lange, hauchzarte weiße Stoffbahnen von der hohen Decke herab. Spiegel in kunstvoll verzierten Goldrahmen prangten an den Wänden neben echten Ölgemälden. Es gab zwei Sitzgruppen, und überall standen hohe Alabastervasen mit Blumen, die mit der Farbgebung des Raums - weiß und gold, mit Akzenten von pfirsich und blau - harmonierten. Eine neue Farbe war jedoch erst kürzlich hinzugekommen: rot.
    Eine ganze Menge rot. Rote Spritzer, rote Lachen, rot, das allmählich braun wurde, während es trocknete.
    Mrs. Gable saß auf einem der Sofas. Ihr Hinterkopf war weg. Sie war nicht nach vorne gesunken, sondern saß einfach zurückgelehnt da, als ob sie sich jetzt endlich ausruhen könnte. Ihre Augen standen offen und starrten leer zur Decke. Der Tod war nicht friedlich; er war einfach leer. Alles war weg. Keine Sonnenaufgänge, keine Hoffnung, keine Ängste mehr. Nichts.
    Sie trug ein weißes, seidenes Nachthemd und ein tief ausgeschnittenes hauchfeines Neglige. Sehr sexy. Marc ging vor ihr in die Hocke und ließ den Blick langsam über sie hinweggleiten, über den Bluterguß an ihrem Hals, der ihm gestern schon aufgefallen war, und über all die anderen Verletzungen. Sie hatte einen kleinen blaßlila Bluterguß auf der Unterseite einer Brust; er sah aus wie ein Knutschfleck. Er vermutete, daß man bei der Autopsie feststellen würde, daß Mrs. Gable nicht lange vor ihrem Tod noch Geschlechtsverkehr gehabt hatte. Der Bastard hatte wahrscheinlich gedacht, daß sie den Mund halten würde über die Art, wie ihr kleiner Junge umgekommen war, wenn er mit ihr schlief, sie zur Abwechslung einmal zärtlich behandelte.
    Vielleicht war das ja der Auslöser gewesen, daß er ihren
    Sohn umbrachte und dann zu ihr kam und Sex wollte. Aber vielleicht hatte sie es sowieso so geplant gehabt.
    Marc drehte den Kopf herum und warf einen Blick auf Mr. Gables Leiche oder besser gesagt das, was davon noch übrig war. Er lag flach ausgestreckt im Türrahmen zum Badezimmer. Sie mußte gewartet haben, bis er auf dem Weg zur Dusche war, ihm in das luxuriös ausgestattete Badezimmer gefolgt sein und ein ganzes Magazin auf ihn abgefeuert haben. So wie der Mann aussah, hatte sie die Pistole danach noch einmal geladen und ein weiteres Magazin geleert. Seine Körperteile lagen überall verstreut herum. Sie hatte genau gewußt, was sie ihm abschoß. Dann hatte sie die Pistole wieder geladen, war zum Sofa gegangen, hatte sich hingesetzt, sich den Lauf in den Mund gesteckt und abgedrückt.
    Gesetz und Gerechtigkeit waren nicht immer dasselbe. Mrs. Gable hatte das Gesetz in ihre eigenen Hände genommen und ihren kleinen Sohn auf ihre Weise gerächt. Vielleicht hatte sie sich danach selbst getötet, weil sie ein Gerichtsverfahren nicht hätte ertragen können oder weil das Leben ohne ihren Sohn keinen Sinn mehr für sie hatte -oder als Buße dafür, nicht früh genug eingeschritten zu sein, um ihn noch zu retten.
    Marc stand da und überflog die Szenerie mit einem grimmigen Gesichtsausdruck. Alles, was ihm jetzt noch zu tun übrigblieb, war der Papierkram.
    Karen saß mit hochgezogenen Knien auf einem Bett in einem mit Vorhängen abgetrennten kleinen Abteil in der Notaufnahme. Sie wußte nicht, warum man sie

Weitere Kostenlose Bücher