Vor Nackedeis wird gewarnt
Verwandten meist berühmte und teilweise auch sehr wohlhabende Leute waren, saß der arme Richard so richtig zwischen den Stühlen. Denn ausgerechnet er entstammte einem Zweig der großen Familie, der weder berühmt noch wohlhabend war.
Eine Internatsschule tat ihr Bestes, aber nachdem eine von Englands bekanntesten Universitäten ihn mit Erfolg in der Praktizierung von diversen Gegenständen auf Fahnenmasten ausgebildet hatte, wurde er in die rücksichtslose Welt entlassen, in der es zunächst darauf ankommt, das nötige Kleingeld zu verdienen.
Lord Caversham hatte ihn bis zu seinem Staatsexamen unterstützt. Von diesem Punkt an aber hatte er ihn ebenso freundlich wie bestimmt gebeten, fortan selbst für seinen Lebensunterhalt aufzukommen.
Aber auf welche Weise, so dachte Mr. Widderby, konnte man fette Honorare mit himmelschreienden Lügen zugunsten von Klienten verdienen, wenn man keine Klienten hatte?
Eine der Eigenheiten englischer Rechtsprechung besteht darin, daß ein Rechtsanwalt nicht einfach auf Kundenfang ausziehen kann. Er muß einen Kronanwalt als Bürgen haben. Dieser Kronanwalt aber bürgt nur für den Rechtsanwalt, dessen Arbeitsweise ihm vertraut ist. Wenn aber ein junger Anwalt nie vor Gericht erscheint, dann kann sich der Kronanwalt unmöglich ein Bild seines Wirkens machen. Und wenn dieser Kronanwalt nicht mit der Arbeitsweise des jungen Anwaltes vertraut ist, dann wird er auch kaum dazu bereit sein, für diesen Anwalt zu bürgen.
Mr. Widderby erwartete weder eine Bürgschaft zu seinen Gunsten, noch hatte er irgendeine Bürgschaft in Aussicht.
Der senile Büroangestellte, der der Anwaltsfirma Hayling, Green & Folenough bereits mehrere Jahrzehnte treu gedient hatte, kroch in das Büro und legte einen Brief in Mr. Widderbys Eingangskörbchen.
»Die Post«, flüsterte er und kroch wieder davon.
Mr. Widderby hielt den Brief hoch.
Ein steifes Kuvert, das sehr amtlich wirkte.
»Eine Bürgschaft?« hauchte er. »Oder doch keine Bürgschaft?«
Er öffnete den Briefumschlag.
Traurig bestätigte er: »Keine Bürgschaft!«
Er las das Schreiben, und seine Augen leuchteten auf.
»Mein Gott«, rief er. »Der alte Potterby-Smythe. Wer hätte das gedacht? Ich bestimmt nicht! Lustig! Gestern... und das beim Dessert. Zusammengebrochen und ohne einen Laut von sich zu geben gestorben! Ein Glück, daß er nicht gerade Schokoladenpudding aß. Das wäre eine schöne Schmiererei geworden.«
Er legte den Brief aus der Hand und legte sein Gesicht in Falten. Das Schreiben unterrichtete ihn davon, daß der Parlamentsabgeordnete von Dymstable plötzlich verschieden war und daher eine Nachwahl notwendig sei, zu der aber ein geeigneter Kandidat praktisch nicht existiere. Die Ortsgruppe der mächtigen Partei schrieb, ob nicht er, Richard Widderby, sich für eine Kandidatur zur Verfügung stellen wolle.
Richard Widderby war in Dymstable aufgewachsen. Wenn er Zeit hatte, kehrte er noch oft nach dort zurück und wohnte dann im Hause seines alten Freundes und Mitstudenten Donald Erasmus Havelock-Dobson. Er wußte genau, daß Dymstable der Konservativen Partei so sicher war wie die Bank von England. Labour würde dort nie einen Erfolg verbuchen können, und die Liberalen waren zwar eine zunehmende, aber dennoch sehr entfernte Gefahr.
Was man ihm also damit anbot, war eine todsichere Sache, die nur ein kompletter Idiot ausschlagen konnte.
Er sagte: »Ich nehme an.«
Er starrte durch das Fenster auf die vielen Boote, die ihn daran erinnerten, daß seit dem letzten Zusammentreffen mit Donald fast ein Jahr vergangen war. Und damals war in Dymstable Angelsaison gewesen.
Er klingelte, und eine halbe Stunde später erschien eine ältliche Sekretärin auf der Bildfläche. Ihr vertraute er die schriftliche Zustimmung zu diesem sehr ehrenvollen Angebot an. Dann ließ er noch ein Telegramm an den ehrenwerten Donald Havelock-Dobson abgehen: Ankomme Sonntagmorgen. Schau, daß Du bis dahin auf den Beinen bist. Widderby.
Und so führte das Schicksal den ehrenwerten Richard Widderby, den kommenden Parlamentsabgeordneten, an dem Sonntagmorgen gegen zehn Uhr in das Haus von Donald, an dem Bernie den Weißen Elefanten vom Stapel laufen ließ.
Jan und seine jüngste Schwester Barbara trafen in Haus Seeblick ein, genau um zwei Uhr, welche Zeit für den Stapellauf des Weißen Elefanten vorgesehen war. Jan, der seinen Schulblazer und graue Flanellhosen trug, glich eher einem Kricket-Turnierspieler im Kaftan als einem Sportsegler,
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