Vor Nackedeis wird gewarnt
Fanden ihn am nächsten Morgen, die Augen starr vor Entsetzen und tot.«
Colette schrie: »Aben Sie derr Geist gesehn?«
Nüchtern erwiderte Seine Lordschaft: »Nein. Schlimmer noch. Der Junge hielt in seiner Linken seinen Bankauszug. Kommen Sie - ich zeige Ihnen die Porträts der Sippschaft.«
Voller Schwung führte er sie an. In der Galerie angelangt zeigte er auf eine Reihe von Ölgemälden.
»Da sind wir. Die Familie. Der erste links ist Sir Robert de Caversham. Kam mit den Eroberern herüber. Armer Teufel, während der ganzen Reise seekrank. Bei der Schlacht von Hastings fiel er dreimal vom Pferd. Er wurde nach London geschickt, um die Krönung vorzubereiten. Versaute die Geschichte. Es kam auch niemand. Nicht einmal William wußte, wo sie stattfinden sollte. Wartete fünf Stunden vor der Kathedrale von Westminster, bevor er merkte, daß sie eine katholische Kirche war. Der nächste Bursche ist der böse, glatzköpfige Sir Roderick de Caversham. Er kämpfte während des hundertjährigen Krieges. Ohne ihn hätte der Krieg nur halb so lange gedauert. Ein bißchen langsamer Bursche, fürchte ich. Kam zwei Stunden zu spät mit Entsatz bei Crécy an und hätte die siegreiche englische Armee fast ausgelöscht. Sie mußten den Schwarzen Prinzen zu Verhandlungen zu ihm schicken, um ihn davon zu überzeugen, daß er auf dem besten Wege dazu war, ein Selbsttor zu schießen. Sehen Sie den alten Dicken da oben? Ha! Busenfreund von Heinrich VIII. 15 3 j wurde er umgelegt. Schrieb ein paar dreckige Gedichte über Anne Boleyn. Man erkannte, daß er der Urheber war. Unterschrieb alles mit einem X. Mußte geschnappt werden. Der kleine Kerl da drüben, mit dem komischen Blick - der hatte mit dem alten Beckett in Canterbury zu tun. Scheußliche Sache. Der ritt auf Teufel komm ’raus nach York und hätte fast den falschen Erzbischof umgebracht.«
Seine Lordschaft strahlte seine Zuhörer stolz an. »Noble Gesellschaft, was?« sagte er. »Diebe, Räuber und Mörder, alle Arten. Typische englische Adlige ihrer Zeit. Schrieben Gedichte an Frauen, die nicht ihre eigenen waren, während sie den Frauen, die ihre eigenen waren, auf dem Kopf herumtrampelten. Schlürften und schmatzten, und lachten sich halbtot, wenn mal wieder jemand gehängt wurde.«
Mißtrauisch fragte Colette: »Stimmt das alles?«
Lord Caversham schnaubte: »Natürlich stimmt das. Beachtlich, die englische Aristokratie.«
»Aber - ist das Ihre Familie, von der Sie das alles behaupteten?« schrie Colette. Für sie war die Familie, ganz gleich welche Vergangenheit sie hatte, eine geheiligte Institution.
Seine Lordschaft schnaubte wieder: »Um Gottes willen, nein. Der letzte wirkliche Caversham verschied im Jahre 1783. Mein Großvater kaufte im Jahre 1862 den Titel. Er war ein Wollhandler in Yorkshire. Dies sind Gott sei Dank nicht meine Verwandten. Ich entstamme einer mittelständischen Familie, die unausstehlich langweilig ist. Folgen Sie mir - ich zeige Ihnen die Geisterkammer.«
Richard murmelte: »Es sollte ein Gesetz gegen Leute wie ihn geben.« Er hatte großen Respekt vor der britischen Tradition.
Er hakte sich wieder bei Colette ein und folgte dem Nachkommen eines Wollhändlers durch die altertümlichen Korridore.
Die See war wie ein weißer Schaumstreifen, der sich gegen einen ebenholzfarbenen Himmel abhob. Er war wolkenlos, und die Sterne glitzerten wie vom Mondlicht angestrahlte Glassplitterchen. Eine leichte Brise wehte salzig über der Flußmündung, und die Wellenbrecher machten leise Geräusche, als glitten sie am Ufer hin und her.
Richard spazierte mit Colette den Strand entlang, mit der einen Hand führte er sie, mit der anderen ein Fahrrad.
Eine stille, fast scheue Colette drehte sich Richard am Eingang zu Haus Seeblick zu.
»Ess warr wunderrschön«, sagte sie.
»Fein«, meinte Richard, »wir müssen das wiederholen - bald!«
»Ja, gerne«, stimmte Colette glücklich zu.
Schweigen.
»Isch muß jetzt gehen«, sagte Colette.
Darauf Richard: »Ja, nicht wahr, du mußt jetzt gehen!«
»Ja«, nickte Colette.
Wieder Schweigen.
»Naja, dann gute Nacht«, sagte Richard.
Colette: »Bon soir.«
Hoffnungsvoll wartete sie. Sie kräuselte ihre Lippen ein wenig und beugte sich nach vorne.
»Gute Nacht«, sagte Richard und schüttelte ihre Hand.
Er stürzte in der Dunkelheit davon.
»Ach«, murrte Colette enttäuscht und ging ins Haus.
Richard war schon an der kleinen Brücke, als er sich plötzlich daran erinnerte, daß er doch in dem
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