Vor uns die Nacht
Strand branden. Es hört sich an, als stünde ich direkt am Meer. Ich war so lange nicht mehr am Meer, zuletzt als Kind in der Bretagne, wo ich mich vor der Flut fürchtete und kaum dem Wasser näherte. Doch trotz des Fernwehs in meiner Brust bin ich froh, hier zu sein – hier und nirgendwo sonst –, die Sonne in meinem Gesicht zu spüren, das Flüstern der Wellen zu hören und den betörenden Duft nach aufbrechendem Grün in mich aufzunehmen. Beim nächsten tiefen Atemzug rieche ich noch etwas anderes – so würzig und penetrant, dass ich mich augenblicklich zurück ins Stadtgeschehen geschleudert fühle, nicht bei Licht und Tage, sondern in warmer, geschützter Dunkelheit.
Vor allem in den Sommernächten riecht man dieses Aroma an fast allen finsteren Ecken, ohne jene Leute zu sehen, die es in die Luft strömen lassen, und es ist mir so vertraut, dass es mir vorkommt, als habe ich jedes Mal mitgeraucht. Dabei saß ich höchstens nebendran und schaute zu. Getraut habe ich mich nie. Trotzdem weiß ich jetzt bereits, dass dieser Geruch mich, wenn ich irgendwann alt und gebrechlich bin, unweigerlich an meine Jugend erinnern und wehmütige Gefühle auslösen wird.
Aber hier, am Rand des Auwalds, hätte ich nicht damit gerechnet. Es passt doch gar nicht. Ich habe auch niemanden gesehen, als ich die Brücke verlassen habe – wann immer ich ihr Ende erreiche, werfe ich einen prüfenden Blick auf das Ufer und den Strand, um zu entscheiden, ob ich nach rechts oder links laufen werde. Auf der anderen Seite sind nicht selten Menschen mit frei umhertollenden Hunden unterwegs – an der Promenade nicht vorstellbar, wo alle paar Meter mahnende Schilder zur Leinenpflicht aufgestellt wurden. Ich pflege keine Hundephobie, bin aber auch nicht böse, wenn sie mir vom Leib bleiben. Die Hundegefahr ist für mich das einzige Manko auf dieser Seite des Flusses. Ansonsten ist sie mir inzwischen lieber als die Promenade. Sie ist reiner und freier. Verwunschener.
Ohne Eile drehe ich mich um, fort von den sanfter werdenden Wellen, und lasse meine Augen über den Waldsaum gleiten. Bisher habe ich mich noch nie hineingewagt, doch heute lockt das Dickicht mich. Die Äste der Bäume sehen aus, als habe sie jemand mit grüner Farbe besprüht, auch wirken sie bewegter und feingliedriger als vergangene Woche noch. Sie strecken und winden sich der Sonne entgegen. Wenn sie erst einmal ihr volles Laub tragen, wird der Auwald undurchdringlich wie ein Dschungel sein.
Meine Schritte knirschen laut auf dem trockenen Kies, als ich hinauf zur Böschung laufe und den schmalen Weg überquere. Von ihm aus führt ein ausgetretener Pfad zwischen zwei mächtigen Platanen hindurch, bevor er sich nach links wendet. Auch ohne Laub stehen die Büsche und Bäume an dieser Abzweigung so dicht, dass ich nicht erkennen kann, was sich dahinter verbirgt – aber der Geruch nach Marihuana ist stärker geworden. Hier muss ich keine Bange haben, dass meine Schritte gehört werden. Denn das weiche, feuchte Gras fängt jedes Geräusch ab, als ich den Pfad nehme und um die Ecke biege.
Ich wundere mich nicht darüber, dass ich weder zusammenzucke noch überrascht bin. Es musste doch so sein. Einen Wimpernschlag lang bleibe ich kühl und unbeteiligt, beobachte nur, als habe ich nichts damit zu tun. Dann schreit über mir ein Vogel auf und flattert mit lauten, harten Flügelschlägen davon. Ich kann nicht sagen, ob Angst in seiner Kehle lauerte oder Freude, doch mein Herz beginnt so schnell zu schlagen, dass meine Beine wieder laufen wollen – auch, um die bittere Enttäuschung in meinem Bauch zu zersprengen.
Das hier ist wieder nur ein Beweis mehr dafür, was Jonas an Schauergeschichten erzählt hat. Die ganze Zeit hatte ich den Fund dieser Schmuddelseite im Internet verdrängt, denn die Vorstellung, dass ein Callboy mir über die Wange leckt, war inakzeptabel gewesen. Jetzt sehe ich diese Website wieder so deutlich vor mir, dass ich nicht ausweichen kann. Sie ist genauso unmissverständlich, wie die Realität mir zeigt, dass Jonas recht hatte: Jan sitzt auf dem Boden, unter sich seine abgewetzte Lederjacke, lehnt sein Kreuz entspannt an einen breiten Baumstamm und kifft. Ob er mich bemerkt hat, weiß ich nicht, ich schätze aber, es ist ihm sowieso gleichgültig, wer auch immer ihn bei seinem berauschenden Vergnügen erwischt. Jemand wie er kennt seine Gesetzeslücken genau und Haschischkonsum für den Eigenbedarf wird ja toleriert.
Mir ist es allerdings zu einfach,
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