Vor uns die Nacht
Zweifeln und Sehnsüchten rund um Jan kaputtzugehen. Aber ich bin hier. Das ist es doch, was zählt, oder?
Eigentlich hätte auch Jonas hier sein müssen. Heute Morgen noch habe ich ihn gebeten, ebenfalls zu kommen, und er gab seine Zustimmung, bevor er nach einem seiner immer häufiger werdenden besorgten Blicke in die Muckibude verschwunden war. Doch er ist nicht gekommen und meine Eltern haben ihn mit keiner Silbe erwähnt.
Oder hat Jonas nach dem Vorfall heute Nacht die Schnauze voll von mir? Ich hatte wieder einen Albtraum – in seiner Intensität ähnlich aufrüttelnd wie der letzte, doch er kam mir nicht vor wie eine Heimsuchung, sondern wie eine Botschaft. Als ich daran denke, kann ich kaum mehr schlucken, obwohl das Hähnchen, das Mama gebraten hat, köstlich schmeckt; eine willkommene Abwechslung zu dem Trashfood, das ich mir in letzter Zeit lustlos einverleibe. Ich benötige drei Versuche und einen Schluck Wasser, bis sich der zerkaute Fleischballen endlich meine Kehle hinunterarbeitet. Heute Nacht, kurz nach dem Aufwachen, konnte ich gar nicht mehr schlucken. Mein Mund war staubtrocken gewesen und meine Füße zuckten, als bekäme ich eine Elektroschocktherapie verabreicht.
Aber viel unheimlicher war gewesen, was ich zu Jonas gesagt habe, nachdem ich endlich zu schreien aufgehört hatte. »Der Tod stand neben meinem Bett.« Ein Satz aus einem Horrorthriller. Doch so war es gewesen. Was genau ich geträumt habe – daran kann ich mich nicht mehr erinnern, nur daran, was ich sah, als ich endlich ins Erwachen überdriftete: eine hoch aufragende Gestalt, die am Fußende meines Bettes stand und auf mich hinabstarrte, mit dunkler Kapuze und einer Sense in der dürren Hand, eine Vision, die direkt aus einem Hieronymus-Bosch-Gemälde hätte entronnen sein können. »Der Tod stand neben meinem Bett.« Selbst Jonas erschrak angesichts dieser Aussage. Es hatte mehrere gepresste Atemzüge gedauert, bis die Gestalt verblasste und ich wieder in der Wirklichkeit angelangt war.
Für einen Moment der Erleichterung, immer noch im Nachhall all des Schreckens, hielt Jonas mich in seinem Arm, doch dann stieß er mich unvermittelt aufs Bett und begann zu schimpfen wie ein Rohrspatz. Es waren vielmehr Flüche als vernünftige Sätze, aber die Botschaft war klar: Er ist sauer auf mich und meine »Aktionen« und vor allem darauf, dass ich ihm nichts mehr von mir erzähle. Aber zu mir drang auch durch, dass er sich in aufrichtiger Sorge befindet und dass sein Ärger irgendwann stärker wird als die Sorge, wenn ich nicht bald dagegensteuere.
Auch deshalb: Sonntagmittagessen mit Jonas bei meinen Eltern, wie früher. Nur weil mein Liebesleben sich um 180 Grad gedreht hat, bedeutet das ja nicht, alles zu vergessen, was vorher war. Zugleich kann ich nicht glauben, dass mein Date mit Jan erst zwei Tage zurückliegt, sie kommen mir vor wie zwei Wochen – oder zwei Monate? In zwei Tagen können so unendlich viele Fragen entstehen und sie haben allesamt die schärfsten Waffen, um mein unstetes Glück zu zerstören und immer dann niederzustrecken, wenn es sich zu erholen und neu zu formen beginnt. Warum hat er mich nicht berührt? Warum hat er nichts darüber gesagt, nicht einen einzigen Satz? Gut, er hat es währenddessen getan, aber schickt man nicht noch etwas hinterher? Will er mich am Ende gar nicht wiedersehen? Wenn er es gut fand, müsste er doch mehr wollen, und zwar sofort. Hat er noch andere Gespielinnen, mit denen er sich trifft, und ist deshalb froh, dass es mit uns nur alle zwei oder drei Wochen geschieht? Und was ist, wenn ich ihn nie mehr wiedersehe, weil er eines Nachts in der Kneipe von einer Frau angeglotzt wird, die hübscher und erfahrener und erotischer ist als ich? Und die nicht nach dem Vorspiel auf seinem Bauch einschläft, weil sie von all den Sinnesreizen restlos überfordert ist? Eine Frau, die erst ihn zum Höhepunkt bringt und anschließend sich? Die all das zu Ende führt, was sie beginnt, anstatt wie ich immer anzufangen und dann zu flüchten oder halb ohnmächtig zu werden?
Doch angenommen, ich führe es zu Ende und wir schlafen miteinander – was ist danach? Was kommt dann? Genüge ich ihm?
Das ist die Frage, die unentwegt durch meinen Kopf kreist, meine Nächte stört, und vor allem meine Träume, messerscharf und unerbittlich. Genüge ich ihm?
Gelingt es mir allein durch meine Existenz, ihn so in Atem zu halten, dass er mich wiedersehen will? Oder wäre es klüger, wie ein kostbares Kleinod
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