Vor uns die Nacht
er sie stehen und eilt die Treppe hoch. Zwei Schritte auf einmal.
Er wird mich schlagen, denke ich einen angstvollen Moment lang, als er in mein Zimmer stürzt, jetzt wird er mich zum ersten Mal schlagen, und weiß, dass auch er es denkt. Dass er es sogar will. Die Zeit bleibt stehen und wir starren uns sekundenlang an wie zwei Wildtiere, die sich in die Quere gekommen sind und nicht wissen, ob es sich lohnt zu kämpfen.
Er ist der Erste, der sich wieder regt, die Hand noch drohend erhoben, aber seine sonst so mächtige Stimme ist plötzlich brüchig. »Ich werde dir dein Geld streichen.«
»Das ist Erpressung«, flüstere ich. »Du erpresst mich. Das ist nicht christlich.«
»Du liebst dein Studium, oder?«
Jetzt wird er gemein. Ich bin kurz davor zu weinen, doch das will ich ihm nicht gönnen, denn trotz meiner Wut fürchte ich, dass niemand von uns heil aus dieser Situation herauskommt, wenn ich schwach werde.
»Dann geh ich eben arbeiten.« Auch meine Stimme ist nur noch ein Hauch. »Hab ich hier ja eh jahrelang getan, manchmal fast jeden Tag. Unbezahlt. Ich war hier zum Arbeiten, oder? Ich hatte einen Job zu erfüllen. Richtig?«
Er widerspricht nicht und hält mich auch nicht auf, als ich die Tasche schultere und nach unten gehe, wo Mama die Ellenbogen auf den Tisch gestützt hat und ihr Gesicht in den Händen hält. Ich schließe die Haustür sanft, nicht mit einem Knall. Ich bringe es nicht übers Herz, sie ins Schloss zu schlagen.
Das hier ist keine Rebellion, das ist ein Witz. Ich haue ab in eine WG, die mein Vater bezahlt und in der mein Sandkastenfreund auf mich aufpasst, dessen Eltern bereits gemeinsam mit meinen studiert haben. Ich gehe nur von einem goldenen Käfig in den anderen. Da ist überhaupt kein Platz für irgendeine Rebellion, geschweige denn, dass ich jemals eine anzetteln wollte. Alles, was ich tun kann, ist, mich für Krieg oder Frieden zu entscheiden.
Für heute wähle ich Krieg. Ein Krieg, der schmerzt und mir jetzt schon das Gefühl gibt, ihn niemals gewinnen zu können, aber ich kann nicht anders.
Ich muss Jan wiedersehen.
Zornesblitz
I hr Scheißkerle!« Erneut dresche ich mit beiden Fäusten auf den Boxsack ein, obwohl ich meine Arme nicht mehr spüre und meine Knie so zittern, dass mich meine Beine kaum noch tragen. Aber meine Wut ist noch nicht verraucht und die Zweifel feuern sie sekündlich neu an. »Ihr seid doch alle gleich, benutzt uns für euer Vergnügen, und wenn dann was anderes spannender ist, sind wir euch egal! Das tut weh! Es tut weh, begreift ihr das nicht, ihr elenden Arschlöcher? Ihr tut uns weh! Du tust mir weh, Jan …« Ich kann nicht weitersprechen, doch es gibt auch nichts zu sagen als das, was ich hier nutzlos ins Nichts rufe, und im Grunde kann ich es reduzieren auf einen einzigen Satz, denn die Flüche erreichen sowieso niemanden.
»Es tut weh.«
Zweimal bin ich die Strecke über die Brücke und zurück gelaufen, weil ich hoffte, ich würde mich danach besser fühlen, doch als ich in die WG kam und wieder ergebnislos auf mein Handy schaute, wallten der Zorn und die Hilflosigkeit von Neuem auf. Es hört nicht auf. »Scheiße«, keuche ich erstickt und lehne mein schweißnasses Gesicht gegen den kühlen Boxsack, während meine wund geschlagenen Fäuste ihn festhalten. Dann tue ich wieder das, was ich manchmal alle fünf Minuten mache: Ich hole mein Handy aus der Tasche. Kein Nachrichtensymbol. Immer noch nichts. Online ist er auch nicht. Er meinte das wirklich so. Es war sein Ernst.
»Ich halte das nicht mehr aus!« Mit Schwung schmeiße ich das Smartphone von mir. Dumpf schlägt es auf den Holzdielen auf und sofort erlischt das Licht. Das Licht erlischt? Oh nein, ich werde es doch nicht kaputt gemacht haben?
Auf den Knien robbe ich in die Ecke, drehe es um und sehe sofort, dass der Touchscreen meinen Zornesblitz nicht überlebt hat. Er ist zersprungen. Hektisch drücke ich auf den Tasten herum, doch das Licht flackert jedes Mal nur kurz auf, um dann wieder der Dunkelheit die Macht zu überlassen.
»Scheiße«, flüstere ich. »Verdammte Scheiße.« Mit dem Handy in der Hand lasse ich mich zur Seite auf den kühlen Boden fallen, schlinge die Arme um meine bebenden Knie und beginne wie ein Kind zu weinen.
»Ronia! Was machst du denn hier? Hast du Schmerzen?«
Ich stehe nicht auf, erkläre mich nicht, mir ist alles egal. Jonas dreht mich mit beiden Händen sanft zu sich, doch ich kreuze die Arme vor meinem Gesicht. Hustend versuche ich das
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