Vor uns die Nacht
zu bewahren, was wir geteilt haben, und in mein altes Leben zurückzukehren? Es war doch schön mit ihm. Ich müsste zufrieden sein damit. Aber ich bin es nicht. Ich will ihn in mir fühlen, mein Körper bettelt danach, selbst wenn es anschließend keine Träume und Wünsche mehr gibt und alles gesagt, alles getan ist.
»Hast du uns etwas mitzuteilen?«
»Was?« Erschrocken reiße ich meinen Kopf hoch und schaue Mama an. Sofort wendet sie ihren Blick ab.
»Das heißt ›wie bitte‹. Ob du uns etwas zu erzählen hast? Aus deinem Leben?«
Eine seltsame Frage. Es ist sogar zum ersten Mal der Fall, dass sie direkt nach meinem Leben fragt. Bisher habe ich immer von selbst meine wöchentliche Beichte abgelegt, die harmlos und langweilig gleichermaßen war, aber meine Eltern einigermaßen zufriedenstellte. Auch wenn sie lieber sähen, dass ich Theologie studiere, wie Vater es getan hat, und nicht so etwas Brotloses wie Archäologie.
»Ja, das habe ich. Wir müssten endlich mal den Auslandsaufenthalt in Frankreich klären«, beginne ich kleinlaut. »Ich hab nur noch eine Woche Zeit für die Zusage und es wäre wichtig für mich, denn …«
»Das meinten wir nicht«, sagt Vater mit einer Ruhe, die das Grollen dahinter deutlich verrät. Automatisch lege ich mein Besteck hin und höre auf zu essen. Essen ist jetzt nicht mehr erwünscht. »Wir meinen dein Privatleben.«
»Ich habe kein Privatleben«, lüge ich. Hat Jonas wegen Josy und ihrem Geburtstag gepetzt? Dass ich nicht da war? Sie hat seitdem nicht mehr mit mir geredet, obwohl ich ihr eine selbst gebrannte CD in den Briefkasten geworfen und mich auf einer Shaun-das-Schaf-Karte fünffach entschuldigt habe. Sie liebt Shaun das Schaf. Und sie wird mir verzeihen; wenn nicht jetzt, dann auf jeden Fall noch diesen Sommer.
»Nun, zumindest keines, von dem du berichtest – aber sehr wohl eines, das sichtbar ist, auch wenn du glaubst, du könntest den Rest der Welt an der Nase herumführen«, entgegnet Vater scharf und schiebt seinen Teller von sich weg. Okay. Das Essen war ein Vorwand. Nicht nur von meiner Seite, sondern auch von ihrer. Hier geht es um etwas völlig anderes.
»Ronia, ich weiß nicht, was du dir dabei denkst!« Mamas Tonfall klingt flehend und anklagend zugleich, Seidenpapier mit winzigen Glassplittern. Plötzlich weiß ich, was los ist. Vater spielt auf Jan an. Sie wissen es. Der Schock darüber lässt mich klar und wach werden – und meine Antwort ist einfach. Nichts habe ich mir dabei gedacht. Ausnahmsweise mal nichts. Viel drum herum, ja, ohne auch nur irgendeine schlüssige Antwort zu finden. Aber währenddessen nichts. Und es war schön. Ich habe keine Lust, das zu leugnen.
»Hat Jonas mich verpetzt?«, frage ich gelangweilt, obwohl es in mir brodelt.
»Kind, du lebst in einem Pfarrhaus! Hier gehen täglich Leute ein und aus!« Wieder ist es Mama, die redet, und mein Verdacht verhärtet sich, dass Vater jede Sekunde übernehmen wird, denn er hat diesen einen speziellen Blick, den ich bisher nur ganz selten an ihm erlebt habe. Seine Augen werden klein und kalt, ein Grau wie Eisnebel. »Du wurdest gesehen, draußen am Fluss, mit ihm, und zwar …«
Mama bricht ab. Nein, das will selbst ich nicht wissen. Ich nehme an, am Kiesstrand, als ich beinahe umkippte und Jan mich des Hexendaseins bezichtigte, oder aber bei unserem ersten Kuss an der Brücke. Hoffentlich hat das petzende Schäfchen aus Vaters Gemeinde uns nicht bis in die Büsche verfolgt oder gar Beweisfotos geknipst.
»Ronia, ich verstehe es nicht. Ich verstehe es nicht!«, lamentiert sie weiter, als ich nichts sage. »Da ist Jonas, der für dich da ist, und wenn du ihn immer noch nicht willst, gibt es unter deinen Kommilitonen sicherlich andere junge Männer, die du haben könntest, du bist eine hübsche, intelligente …«
»Ich habe ihn doch gar nicht! River und ich führen keine Beziehung miteinander, wir haben ….« Nur Sex, denke ich. Ja, das ist es wohl, wir haben Sex, der zwar bislang unvollendet ist, aber sagt man das seinen Eltern? Nicht im Traum. Außerdem will ich es ihnen nicht sagen. Es geht sie nichts an.
Mama stiert auf die Serviette zwischen ihren Händen, die sie jetzt schon mindestens zehnmal zum Dreieck und wieder aufgefaltet hat. Wenn sie anfängt zu heulen, stehe ich auf und gehe. Das mache ich nicht mit.
»Ich bin erwachsen, ich kann tun und lassen, was ich will«, sage ich freundlich, aber bestimmt.
»Nein, das kannst du nicht! Niemand kann das!«,
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