Vor uns die Nacht
poltert Vater los, so laut, dass ich erschrocken aufstehe und hinter meinen Stuhl trete. Ich hatte damit gerechnet, dass er explodiert, doch die Wucht seiner Wut überrascht mich. »Wir Menschen leben in einer Gemeinschaft, vor allem wir drei hier und …«
»Ich lebe in einer WG. Ich bin nur noch ab und zu hier«, erinnere ich ihn schneidend.
»Ein WG-Zimmer, das ich bezahle! Genauso wie dein Studium! Und im Gegenzug erwarte ich ein Mindestmaß an Respekt und Anpassung und dass du deine Familie nicht bodenlos blamierst mit deinen Bettgeschichten!«
»Ich habe keine Bettgeschichten!«, brülle ich zurück. Das ist sogar die Wahrheit. In den Genuss von Jans Bett bin ich noch nicht gekommen. Schon gar nicht treffe ich mich mit mehreren Männern. Nie habe ich das getan und Vater müsste das wissen. Ich war immer anständig. Wenn ich mit einem Jungen schlief, dann aus Liebe. Ich wollte bleiben. Sie waren es, die geflüchtet sind. »Um wen geht es hier eigentlich, um euch oder um mich? Geht’s um deinen guten Ruf, ja? Ich wollte in Berlin studieren, nicht hier in diesem Kaff, wegen euch bin ich geblieben! Nur wegen euch! Wäre ich in Berlin, würdet ihr gar nicht mitkriegen, was ich tue!«
»Es geht nicht allein um meinen Ruf, von dem unser aller Zukunft abhängt …« Papa legt eine dramatische Pause ein, wie in seinen Predigten, und er erinnert mich dabei an einen mittelalterlichen Pastor, der gegen den Teufel, das Weib und sämtliche fleischlichen Gelüste wettert. »Unser aller Zukunft.« Wieder eine Pause.
»Amen«, nutze ich sie wispernd. Krachend landet seine Faust auf dem Tisch. Oh ja, ich provoziere ihn, aber was tut er? Prangert mein Privatleben an. Nicht jeder hat das Glück, mit zwanzig die Frau seines Lebens zu treffen (die gerade in eine Art innere Emigration getreten ist und mit glasigem Blick die Serviette malträtiert).
»Ronia, wach auf! Ich bitte dich in Gottes Namen: Wach auf! Für dich und für uns! Diesem Kerl sieht man seine Geschlechtskrankheiten doch schon aus hundert Metern Entfernung an!«, zetert Papa weiter und kümmert sich nicht darum, dass Mama bei dem Wort Geschlechtskrankheiten zusammenzuckt. Ich zucke nicht zusammen, mich macht es unerträglich zornig. Selbst wenn wir nur Sex haben und streiten, sobald wir zu reden beginnen, selbst wenn ich eine Menge an Jan ablehne und seine Drogenspielereien und halb kriminellen Aktionen mich irremachen – so etwas darf niemand über ihn sagen. Nicht, ohne ihn zu kennen. Da ändert es auch nichts daran, dass ich ihn nicht kenne. Ich umgreife die Stuhllehne mit beiden Händen; irgendwo muss ich mich festhalten, um mich wehren zu können.
»Es reicht! Du hast ihn doch gar nicht kennengelernt! Erinnere dich an deine Weihnachtspredigt, Vater!« Nun zuckt auch er zusammen, denn nichts irritiert ihn mehr, als wenn ich ihn Vater nenne. Doch ein Papa war er nie. Kein Papa, bei dem man auf den Schoß krabbeln und zu dem man unter die Decke kriechen konnte, wenn man schlecht geträumt hatte. Er war immer nur ein Mann zum Respektieren und Anbeten gewesen. Also ein Vater. »Toleranz! Nächstenliebe! Von Huren hast du gesprochen, von Drogensüchtigen, Asylanten, alle Randgruppen, die dir so einfielen, hast du aufgezählt und in dein Gebet eingeschlossen, ihnen Liebe und Frieden gewünscht! Und jetzt ergibst du dich blinden Vorurteilen! Glaubst du überhaupt, was du da in deinen Predigten so verzapfst?«
»Raus. Raus! Raus aus meinem Haus! Sofort!«
»Gerne. Ich wollte sowieso gerade gehen.«
Mama erwacht aus ihrer Serviettentrance und erhebt sich schwankend, doch Vater anzufassen wagt sie nicht. Beschwichtigend reckt sie die Hände in die Luft. Sie zittern ebenso wie ihre Lippen.
»Georg, bitte, wir wollten nur mit ihr reden, Ronia, nicht. Ronia!«
Doch ich bin schon auf dem Weg die Treppe hinauf in mein Zimmer, wo ich mir eine alte Sporttasche greife und wahllos Dinge reinstopfe, einen alten Teddybär, Kinderbücher, einen Setzkasten, den ich nie gemocht hatte, aber viel ist hier ja nicht mehr und sie sollen wissen, dass ich es ernst meine. In diesem Zimmer werde ich nicht mehr schlafen. Nie wieder. Meine blöden dunklen Blusen können sie in die Altkleiderspende geben. Es hat sich ausgekarfreitagt.
»Du gefährdest dein Studium, wenn du das jetzt tust! Und dich weiterhin mit ihm triffst! Das dulde ich nicht! Wir dulden das nicht, Marie und ich!«, schreit Vater von unten. Sieh an, er hat gemerkt, dass seine Frau auch noch da ist. Trotzdem lässt
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