Vor Vampiren wird gewarnt
schimpfte meine Großmutter bereits mit mir. Ich hatte hier ein Mitglied meiner Familie vor mir, eines der wenigen, die noch lebten und/oder für mich erreichbar waren. Meine Beziehung zu meinem Urgroßvater hatte geendet, als er sich in die Elfenwelt zurückzog und die Tür endgültig hinter sich schloss. Jason und ich hatten unsere Streitigkeiten zwar wieder ausgebügelt, doch mein Bruder lebte mehr oder weniger sein eigenes Leben. Meine Mom, mein Dad und meine Großmutter waren tot, meine Tante Linda und meine Cousine Hadley waren tot, und Hadleys kleinen Sohn sah ich nur sehr selten.
Innerhalb einer Minute hatte ich mir das ganze Elend vor Augen geführt und war völlig deprimiert.
»Habe ich denn genug Elfenerbe in mir, um dir helfen zu können?« Das war das Einzige, was mir in diesem Augenblick einfiel.
»Ja«, erwiderte er einfach nur. »Ich fühle mich schon besser.« Das war ja ein geradezu unheimliches Echo meines Gesprächs mit Bill, dachte ich. Claude ließ ein halbes Lächeln sehen. Selbst wenn er unglücklich war, sah er immer noch unglaublich aus, aber wenn er lächelte, schien er geradezu göttlich. »Dass du öfter in der Nähe von Elfen warst, hat das Elfenerbe in dir, so wenig es auch sein mag, noch verstärkt. Übrigens, ich habe einen Brief für dich.«
»Von wem?«
»Von Niall.«
»Wie ist das denn möglich? Ich dachte, die Elfenwelt ist mittlerweile vollkommen abgeschottet.«
»Er hat Mittel und Wege«, sagte Claude ausweichend. »Er ist jetzt der einzige Fürst, und sehr mächtig.«
Er hat Mittel und Wege. »Hmpf«, machte ich. »Okay, zeig mal.«
Claude zog einen Umschlag aus seiner Reisetasche. Er war bräunlich gelb und mit blauem Wachs versiegelt, in dem man den Abdruck eines Vogels mit im Flug gespreizten Flügeln erkennen konnte.
»Es gibt also einen Elfenbriefkasten«, sagte ich. »Und du kannst Briefe verschicken und empfangen?«
»Diesen Brief jedenfalls.«
Elfen waren wahre Meister im Ausweichen. Entnervt stöhnte ich auf.
Ich nahm ein Messer zur Hand und fuhr damit unter dem Siegelwachs entlang. Der Briefbogen, den ich aus dem Umschlag zog, war von einer seltsamen Beschaffenheit.
»Liebste Urenkelin«, begann der Brief. »Es gibt Dinge, die ich Dir nicht mehr sagen konnte, und viele Dinge, die ich für Dich nicht mehr tun konnte, nachdem meine Pläne sich durch den Krieg verändert hatten.«
Okay.
»Dieser Brief ist geschrieben auf der Haut eines jener Wasserelfen, die Deine Eltern ertränkt haben.«
»Igitt!«, schrie ich und ließ den Briefbogen auf den Küchentisch fallen.
Claude war augenblicklich an meiner Seite. »Was ist los?«, fragte er und sah sich in der Küche um, als würde er erwarten, dass jeden Moment ein Troll auftauchte.
»Das ist Haut! Haut!«
»Worauf soll Niall denn sonst schreiben?« Er wirkte total verblüfft.
»Iiihhh!« Selbst für meinen eigenen Geschmack klang ich etwas zu mädchenhaft-zimperlich. Aber mal ehrlich... Haut?
»Sie ist vollkommen sauber«, sagte Claude, der offenbar glaubte, das würde all meine Probleme lösen. »Und sie wurde veredelt.«
Also biss ich die Zähne zusammen und griff wieder nach dem Brief meines Urgroßvaters. Ich holte einmal sehr tief Luft. Eigentlich roch das ... Material nach gar nichts. Ich unterdrückte das Bedürfnis, Ofenhandschuhe anzuziehen, und zwang mich weiterzulesen.
»Ehe ich Deine Welt verließ, habe ich dafür gesorgt, dass einer meiner menschlichen Bevollmächtigten mit einigen Leuten sprach, die Dir helfen können, Dich der Überprüfung durch die Regierung Deines Landes zu entziehen. Als ich die pharmazeutische Firma verkaufte, die uns gehörte, setzte ich fast meinen ganzen Gewinn dafür ein, Deine Freiheit sicherzustellen.«
Ich blinzelte, weil meine Augen ein wenig feucht wurden. Niall war vielleicht nicht der typische Urgroßvater, aber Donnerwetter, da hatte er etwas wirklich Wunderbares für mich getan.
»Er hat ein paar Regierungsbeamte bestochen, um mir das FBI vom Hals zu schaffen? Das hat er getan?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Claude achselzuckend. »Mir hat er auch geschrieben, um mich wissen zu lassen, dass ich jetzt dreihunderttausend Dollar mehr auf meinem Bankkonto habe. Und auch, dass Claudine kein Testament hinterlassen hat, weil sie nicht...«
... erwartet hatte, zu sterben. Sie hatte erwartet, ihr Kind großzuziehen, zusammen mit ihrem Elfenliebhaber. Claude schüttelte sich und fuhr mit brüchiger Stimme fort: »Niall hat eine menschliche Leiche erschaffen
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