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Vorhang auf für eine Leiche

Vorhang auf für eine Leiche

Titel: Vorhang auf für eine Leiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Bradley
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abnahm.
    »Hallo … Flavia? Rufe ich in einem ungünstigen Moment an?«
    »Guten Morgen, Herr Vikar. Nein, ich habe mir nur das Knie am Türrahmen angeschlagen.«
    Aus Flavias Buch der goldenen Regeln: Wirst du beim Fluchen erwischt, spiele auf Mitleid.
    »Armes Mädchen. Hoffentlich hast du dir nicht schlimm wehgetan.«
    »Geht schon wieder, Herr Vikar. Bestimmt lassen die höllischen Schmerzen bald nach.«
    »Schön, ich rufe auch nur an, um mitzuteilen, dass von unserer Seite aus alles bestens läuft. Die Karten sind fast alle verkauft, dabei ist die Sonne noch nicht mal richtig aufgegangen. Cynthia und ihre Telefon-Amazonen haben sich gestern Abend selbst übertroffen.«
    »Das freut mich, Herr Vikar«, sagte ich. »Ich richte es Vater aus.«
    »Ach, und Flavia, richte ihm bitte auch aus, dass Dieter Schrantz von der Culverhouse Farm vorgeschlagen hat, dass wir, natürlich nur, falls dein Vater einverstanden ist, die Theaterbegeisterten in dem alten Schlitten aus eurer Remise vom Gemeindesaal bis nach Buckshaw kutschieren könnten. Dieter meinte, er könnte den Schlitten an einem Haken hinter dem Traktor herziehen. Schon diese Fahrt dürfte den Eintrittspreis wert sein, oder was meinst du?«
     
    Vater hatte mit erstaunlich wenig Murren zugestimmt, aber das war fast immer so, wenn es um eine Bitte des Vikars ging. Die Freundschaft der beiden war von einer Tiefe und Beständigkeit, die ich nicht nach vollziehen konnte. Sie hatten zwar beide das Internat in Greyminster besucht, aber nicht zur selben Zeit; das reichte also als Erklärung nicht aus. Der Vikar zeigte kaum mehr als ein höfliches Interesse an Briefmarken, und Vater interessierte sich nur flüchtig für den Himmel, sodass mir die herzliche Zuneigung zwischen den beiden ein Rätsel blieb.
    Um ehrlich zu sein, war ich ein wenig eifersüchtig auf ihre unbeschwerte Kumpanei, und manchmal wünschte ich mir, ich wäre so dicke mit Vater befreundet wie der Vikar.
    Nicht, dass ich es nicht versucht hätte. Einmal, als ich eine seiner Briefmarkenzeitschriften benutzte, um die Flamme eines lahmen Bunsenbrenners anzufachen, hatten sich die Seiten umgeblättert, und die Worte »naszierender Sauerstoff« waren mir ins Auge gefallen. Allem Anschein nach wurde dieser Stoff hergestellt, indem man Formaldehyd zu Kaliumpermanganat hinzugab, und die Post hatte ihn dazu benutzt, um zu der Zeit, als die Cholera noch eine ständige Bedrohung war, Postsäcke im Mittelmeerraum auszuräuchern.
    Das war ja mal ein richtig interessanter Aspekt der Briefmarkensammlerei! Eine Brücke, wie wacklig sie auch sein mochte, zwischen der Welt meines Vaters und meiner eigenen.
    »Wenn du mal ein paar von deinen Briefmarken desinfizieren willst«, hatte ich ihm prompt angeboten, »übernehme ich das gern für dich. So ein bisschen naszierenden Sauerstoff herzustellen ist für mich ein Kinderspiel.«
    Wie ein Zeitreisender, der soeben aufwacht und sich in einem unbekannten Haus in einem völlig unerwarteten Jahrhundert wiederfindet, hatte Vater von seinem Album aufgeschaut.
    »Vielen Dank, Flavia«, hatte er nach einer enervierenden Pause gemurmelt. »Wenn das mal nötig sein sollte, komme ich darauf zurück.«
     
    Daffy lag wie immer quer über einem Sessel in der Bibliothek, das aufgeschlagene Bleak House auf den Knien.
    »Hängt dir die Schwarte denn nicht langsam mal zum Hals raus?«, erkundigte ich mich.
    »Im Gegenteil!«, blaffte sie zurück. »Die Geschichte hat so viele Parallelen zu meinem eigenen elenden Dasein, dass ich kaum merke, ob ich gerade lese oder nicht.«
    »Dann kannst du das Lesen doch genauso gut bleiben lassen.«
    »Verzieh dich«, sagte sie. »Geh jemand anderem auf die Nerven.«
    »Du hast Ringe unter den Augen«, erwiderte ich. »Hast du gestern Nacht zu lange gelesen, oder lässt dich dein schlechtes Gewissen nicht schlafen, weil du deine kleine Schwester so verabscheuungswürdig behandelst?«
    Das Wort »verabscheuungswürdig« hatte ich schon immer mal in einem Satz unterbringen wollen, seit ich gehört hatte, wie Cynthia Richardson, die Frau des Vikars, es Miss Cool, der Postamtsvorsteherin, entgegengeschleudert hatte. Cynthia hatte allerdings von der Königlichen Post gesprochen.
    »Von wegen«, brummelte Daffy. »Wie soll man denn bei dem elenden Gejaule schlafen?«
    »Ich habe nichts jaulen gehört.«
    »Weil bei deinem angeblich absoluten Gehör die Sicherung durchgebrannt ist. Wahrscheinlich setzt bei dir bereits die erbliche Taubheit der de Luces ein.

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