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Vorhang auf für eine Leiche

Vorhang auf für eine Leiche

Titel: Vorhang auf für eine Leiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Bradley
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Sie wird immer von der jüngsten Tochter an die jüngste Tochter weitergegeben und macht sich meistens im Alter von zwölf Jahren zum ersten Mal bemerkbar.«
    »Quatsch!«, sagte ich. »Da war kein Gejaule. Das hast du dir alles bloß eingebildet.«
    Daffys linkes Ohrläppchen zuckte, wie immer, wenn sie wütend war. Ich wusste, dass ich einen wunden Punkt getroffen hatte.
    »Das war keine Einbildung!«, schrie sie, schleuderte ihr Buch auf den Boden und sprang auf. »Das ist diese Wyvern-Ziege! Die lässt die ganze Nacht alte Filme laufen, einen nach dem anderen, bis man laut schreien könnte! Wenn ich noch einmal hören muss, wie sie ›Nie werde ich Burg Falkenklau vergessen‹ sagt und diese geschmacklose Musik aufbraust, kotze ich Brackwasser!«
    »Ich dachte, du magst sie? Deine Zeitschriften …«
    Auweia! Beinahe hätte ich mich verraten. Ich durfte ja nicht wissen, was da alles in Daffys unterster Kommodenschublade lag.
    Aber meine Sorge war unbegründet. Daffy war viel zu aufgebracht, als dass ihr mein Versprecher aufgefallen wäre.
    »Auf Papier finde ich sie ganz nett, aber persönlich kann ich sie nicht ausstehen. Sie starrt mich an, als wäre ich eine Missgeburt.«
    »Vielleicht bist du ja eine«, sagte ich hilfsbereit.
    »Du kannst mich mal! Aber wenn du dich mit Lady Phyllis schon so gut verstehst, kannst du ihr, wenn du sie das nächste Mal siehst, ausrichten, dass sie gefälligst leiser sein soll. Sag ihr, Buckshaw ist kein schmieriges Provinzkino, wie sie es von zu Hause gewöhnt ist.«
    »Wird erledigt.«Ich machte auf dem Absatz kehrt und ging hinaus. Irgendwie tat mir Phyllis Wyvern plötzlich ein bisschen leid.
     
    In der Halle stand Dogger auf einer hohen Leiter, die er sonst zum Apfelpflücken benutzte, und befestigte einen Stechpalmenzweig an einem Türsturz.
    »Pass auf das Ilicin auf!«, rief ich zu ihm hoch. »Nicht an den Fingern lecken.«
    Das war natürlich ein Scherz. Früher hatte man angenommen, dass eine bestimmte Dosis des Glycosids in den roten Beeren tödlich wirken könnte, aber die Blätter anzufassen war nun wirklich völlig ungefährlich.
    Dogger hob den Ellbogen und spähte durch die Armbeuge zu mir herab.
    »Vielen Dank, Miss Flavia«, sagte er. »Dann will ich mich mal höllisch in Acht nehmen.«
    Obwohl Gifte zu jeder Jahreszeit ein schönes Thema sind, ist Weihnachten doch etwas Besonderes, weshalb ich unwillkürlich grinsen musste. Ich grinste immer noch, als es an der Tür klingelte.
    »Ich geh schon«, rief ich.
    Als ich die Tür aufmachte, wehte mir Schnee ins Gesicht. Ich rieb mir die Augen, aber nicht nur aus Verwunderung, denn in unserer Einfahrt parkte der Bus aus Cottesmore. Unheil verkündende Dampffontänen quollen aus seinem Kühler. Vor mir stand Ernie, der Busfahrer, und fuhrwerkte mit einem metallenen Zahnstocher in seinem Gebiss herum.
    »Kommen Sie! Kommen Sie! Vorsicht, es ist glatt!«, rief er nach hinten zu dem Pulk von Leuten, der jetzt aus der offenen Bustür drängte.
    »Ich bringe eure Schauspieler«, sagte er zu mir.
    Sie marschierten an uns vorbei in die Halle, als wären sie Touristen in der Nationalgalerie, kurz nachdem die Pforten öffneten. Es waren um die dreißig Personen, dazu Mäntel, Schals, Überschuhe, Handgepäck und bunte Päckchen. Stimmt, sie würden ja Weihnachten hier verbringen, fiel mir wieder ein.
    Eine Nachzüglerin hatte Probleme mit der Vortreppe. Ernie wollte ihr schon helfen, aber sie stieß den ihr angebotenen Arm weg.
    »Ich schaffe das schon«, sagte sie brüsk.
    Diese Stimme kenne ich doch!
    »Nialla«, rief ich. Tatsächlich – sie war es!
    Nialla Gilfoyle war die Assistentin von Rupert Porson gewesen, dem fahrenden Marionettenspieler, der im Gemeindesaal von St. Tankred ein so schreckliches Ende gefunden hatte. Seit letztem Sommer, als sie Bishop’s Lacey ziemlich verärgert verlassen hatte, war ich Nialla nicht mehr begegnet.
    Doch der Ärger von damals schien vergessen. Jetzt stand sie in einem grünen Mantel und einem lustigen, mit roten Beeren verzierten Hut auf der Schwelle von Buckshaw.
    »Na komm, jetzt drück mich schon«, sagte sie und breitete die Arme weit aus.
    »Du riechst nach Weihnachten«, sagte ich, und erst jetzt fiel mir die große Beule auf, die sich zwischen uns wölbte.
    »Achter Monat!«, verkündete sie, machte einen Schritt zurück und hielt ihren Mantel auf. »Guck mal!«
    »Brütest du was aus?«, fragte ich, und sie lachte. In Ruperts Stück hatte Nialla die Mutter Gans gespielt.

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