Vorhang auf für eine Leiche
mich nicht gesehen. Sie stand mit dem Rücken zu mir und spähte um die Ecke herum in die Eingangshalle. Es lag auf der Hand, dass sie die Unterhaltung belauscht hatte, deren Zeugin ich soeben zufällig geworden war.
Wenn sie sich umdrehte, würde sie mir direkt gegenüberstehen.
Ich hielt den Atem an.
Nach einer halben Ewigkeit ging sie langsam weiter bis in die Halle und verschwand aus meinem Blickfeld.
Abermals wartete ich, bis die Schritte verklungen waren.
»Wirklich schade, was?«, sagte da jemand hinter mir, »wenn die Leute sich nicht vertragen können.«
Mir blieb vor Schreck fast das Herz stehen.
Ich fuhr herum, und da stand Marion Trodd und lächelte spöttisch – oder war es eher ein wenig verlegen? Trotz ihres schicken, maßgeschneiderten Kostüms verlieh ihr die dunkle Hornbrille das Aussehen einer Eingeborenenprinzessin, die sich in Vorbereitung eines Menschenopfers Asche um die verschleierten schwarzen Augen geschmiert hatte.
Sie musste die ganze Zeit hinter mir gestanden haben. Mein berühmtes Gehör hatte mich im Stich gelassen!
Wir rührten uns beide nicht vom Fleck und sahen einander im Schummerlicht des Flurs wortlos an, weil wir nicht wussten, was wir hätten sagen sollen.
»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Mir ist eben etwas eingefallen.«
Das stimmte sogar. Und zwar war mir Folgendes eingefallen: Vor Toten fürchtete ich mich überhaupt nicht – aber unter den Lebenden gab es Exemplare, die mir eine Heidenangst einjagten, und Marion Trodd gehörte eindeutig dazu.
Ich machte kehrt und ging rasch davon, ehe sich etwas Grauenhaftes aus dem Teppich erheben und mich in die Tiefe ziehen konnte.
7
V ater saß am Küchentisch und hörte Tante Felicity zu. Dieser Anblick verdeutlichte mir mehr als alles andere, wie sehr – und wie rasch – unsere kleine Welt geschrumpft war.
Ich schob mich leise, jedenfalls glaubte ich das, in die Speisekammer und mopste dort ein Stück Weihnachtskuchen.
»Das geht jetzt schon viel zu lange so, Haviland. Seit zehn Jahren schaue ich, ohne ein Wort zu sagen, dabei zu, wie es bei euch stetig bergab geht, in der Hoffnung, dass du eines Tages zur Vernunft kommst …«
Das war auf geradezu lächerliche Weise unwahr. Tante Felicity ließ sich keine Gelegenheit entgehen, den Finger in die Wunde zu legen.
»… aber alles vergebens. Es ist nicht gesund für die Kinder, weiterhin unter derart barbarischen Bedingungen zu leben.«
Kinder? Hielt sie uns wirklich noch für Kinder?
Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Es ist an der Zeit, Haviland, dass du aufhörst, Trübsal zu blasen, und dich endlich nach einer Frau umschaust – und zwar vorzugsweise nach einer wohlhabenden Frau. Es schickt sich ganz und gar nicht, dass so eine Horde Mädchen von einem Mann großgezogen wird. Sie werden ja zu Wilden. Es ist eine altbekannte Tatsache, dass Mädchen sich unter solchen Umständen nicht vernünftig entwickeln.«
»Lissy …«
»Du kannst rauskommen, Flavia«, rief Tante Felicity, und ich trat aus der Speisekammer, ein wenig verlegen, weil sie mich beim Spionieren erwischt hatte.
»Siehst du, was ich damit meine?«, fragte sie Unheil verkündend und zeigte mit einem Finger auf mich, dessen Nagel so rot war wie verbrauchtes Blut.
»Ich wollte Dogger ein Stück Weihnachtskuchen bringen«, sagte ich in der Hoffnung, sie zu beschämen. »Er arbeitet schwer … und dabei vergisst er oft, genug zu essen.«
Ich nahm eine von Doggers schwarzen Jacken vom Haken hinter der Tür und warf sie mir über die Schultern.
»Wenn ihr mich jetzt entschuldigt …« Und schon war ich zur Hintertür hinaus.
Die kalte Luft biss mir in Wangen, Knie und Knöchel, als ich durch die fallenden Flocken trabte. Der schmale Pfad, den jemand freigeschaufelt hatte, schneite schon wieder zu.
Dogger stand in seinem Overall im Gewächshaus und schnitt Stechpalmen- und Mistelzweige.
»Brrrrr!«, sagte ich. »Ist das kalt.«
Da er üblicherweise nicht auf derlei Banalitäten einging, sagte er nichts dazu.
Der Weihnachtsbaum, den Dogger uns versprochen hatte, war nirgends zu sehen, aber ich bezwang meine Enttäuschung. Wahrscheinlich hatte Dogger noch keine Zeit dafür gehabt.
»Ich habe dir Kuchen mitgebracht«, sagte ich, teilte das Stück und reichte ihm eine Hälfte.
»Vielen Dank, Miss Flavia. Das Wasser kocht gerade. Trinkst du einen Tee mit mir?«
Tatsächlich: Am hinteren Ende des Gewächshauses stand auf einem Pflanztisch eine Kochplatte und auf ihr ein
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