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Vorhang auf für eine Leiche

Vorhang auf für eine Leiche

Titel: Vorhang auf für eine Leiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Bradley
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Tars Notizbüchern hatte ich ein an den Rand gekritzeltes Zitat von Sir Francis Bacon gefunden: »Wir sollten den menschlichen Geist nicht mit Flügeln, sondern eher mit Bleigewichten versehen, um ihn am Springen und Fliegen zu hindern.«
    Genau das hatte ich mit dem Weihnachtsmann vor! Eine Dosis guten alten Fliegenpapiers. Als ich im Bett lag, sah ich lauter Rentiere vor mir, die wie Schmeißfliegen an unseren Schornsteinen festklebten, und ich musste im Dunkeln vor mich hingrinsen. Doch schließlich übermannte mich der Schlaf, begleitet von fernen Grammofonklängen – so kam es mir jedenfalls vor.

8
    I ch blieb auf dem Treppenabsatz stehen.
    »Das ist eine Schweinerei«, schimpfte jemand. »Wie kommen die dazu, uns auch noch solchen Quatsch aufzuhalsen?!«
    »Nicht so laut, Latshaw. Du weißt doch, was Lampman gesagt hat.«
    »Ja, ich weiß, was Seine Eminenz gesagt hat. Dasselbe wie beim letzten Dreh. Ich habe diese Nörgelrede schon so oft gehört, dass ich sie auswendig im Schlaf aufsagen kann. ›Wenn ihr was zu nörgeln habt, sagt es mir‹, bla, bla, bla. Genauso gut können wir es dem Mann im Mond sagen, da kommt auch nicht mehr bei raus!«
    »McNulty hat immer …«
    »McNulty kann mir gestohlen bleiben! Ich habe jetzt das Sagen, und was ich sage, wird gemacht. Und ich sage nichts anderes als das: Es ist eine Schweinerei, uns diesen ganzen Extrakram aufzuhalsen, bloß damit Ihre Königliche Hoheit den Bauern hier was zum Gaffen geben kann.«
    Ich wich lautlos ein Stück zurück und ging dann, allerdings deutlich lauter, wieder auf die beiden zu.
    »Pssst! Da kommt jemand.«
    »Guten Morgen!«, sagte ich munter, rieb mir die Augen und gab mir große Mühe, als Dorftrottel durchzugehen. Hätte ich mehr Zeit gehabt, hätte ich mir noch einen Schneidezahn mit zerriebenem Kohlenstoff schwarz gemalt.
    »Guten Morgen, Miss«, sagte der eine Mann. Der Stimme entnahm ich, dass der andere Mann Latshaw war.
    »Ist das ein Schnee! Hat ja ganz schön runtergemacht, heute Nacht, was?«
    Das war entschieden zu dick aufgetragen, aber aus persönlicher Erfahrung wusste ich, dass Meckerer ohnehin für alles andere als ihre eigenen Stimmen taub sind.
    »Nein, wie reizend!«, rief ich, als ich unten an der Treppe angekommen war, und schlug die Hände zusammen wie eine alte Jungfer, die gerade von einem rotgesichtigen Kavalier mit gebeugtem Knie einen Verlobungsring präsentiert bekommt.
    Die Südseite der Halle hatte sich über Nacht in eine italienische Piazza verwandelt. Vor den Holzpaneelen waren Leinwände mit gemalten Steinmauern angebracht, und der Absatz der Südtreppe war zu einem Balkon in Verona geworden.
    Ein paar künstliche Bäume in Töpfen, die als kleine Bänke verkleidet waren, rundeten die Szenerie ab. Die Illusion war so perfekt, dass ich die italienische Sonne auf der Haut zu spüren glaubte.
    In wenigen Stunden würden Phyllis Wyvern und Desmond Duncan hier die Balkonszene aus Romeo und Julia aufführen, und zwar die Fassung aus der Produktion, die das Londoner West End bis in die frühen Morgenstunden wach gehalten hatte, weil die Schauspieler immer wieder herausgeklatscht worden waren.
    In den muffigen Film- und Theaterzeitschriften, die sich in der Bibliothek von Buckshaw stapelten, hatte ich mehrere Berichte darüber gelesen. Jetzt waren die Zeitschriftenstapel allerdings wegen der Dreharbeiten weggeräumt worden.
    »Passen Sie auf, Miss. Die Farbe ist noch nicht trocken. Sie wollen sich doch nicht von oben bis unten beschmieren, oder?«
    »Nicht, wenn die Farbe bleihaltig ist«, gab ich zurück, schlenderte davon und rief mir mit wohligem Schaudern das Schicksal des amerikanischen Künstlers Whistler ins Gedächtnis, der beim Malen seines berühmten Bildes Mädchen in Weiß wegen des hohen Anteils von Bleiweiß in den Pigmenten an der bei Malern sogenannten »Bleikolik« erkrankt war.
    War das nicht eine wunderhübsche Bezeichnung für eine simple Bleivergiftung? Auch Ratten nagen sich gelegentlich durch Bleirohre, weil ihnen der süßliche Geschmack behagt. Ich hatte sogar schon angefangen, Ideen für eine Broschüre namens Besondere Erscheinungsformen des Plumbismus zu sammeln, und schwelgte in den herrlichsten Gedanken über dieses Thema – als das Telefon klingelte.
    Ich ging sofort hin, ehe es ein zweites Mal klingeln konnte. Wenn Vater das Klingeln hörte, hatten wir den ganzen Tag lang nichts mehr zu lachen.
    »Verflixt und zugenäht!«, sagte ich halblaut, als ich den Hörer

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