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Vorhang auf für eine Leiche

Vorhang auf für eine Leiche

Titel: Vorhang auf für eine Leiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Bradley
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Todsicher verbargen sich in den unergründlichen Tiefen von Miss Lavinias Handtasche die Noten zu »Napoleons letzter Angriff«, »Bendemeer Stream« und »Annie Laurie« – wenn nicht noch einiges mehr.
    »Es geht erst in anderthalb Stunden los«, sagte ich. »Aber Sie können gern schon Platz nehmen. Darf ich Ihnen die Mäntel abnehmen?«
    Da Dogger außer Gefecht gesetzt war, hatte ich beschlossen, selbst den Empfangsportier zu spielen. Schließlich hatte ich schon den ganzen Tag lang dafür geübt! Vater würde sich natürlich fürchterlich darüber aufregen, aber letztlich würde er mir dankbar sein. Vielleicht würde er seine Dankbarkeit nicht offen äußern, aber zumindest würde er mir eine seiner dreistündigen Gardinenpredigten ersparen.
    Momentan war er nirgends zu entdecken. Man hatte fast den Eindruck, als fühlte er sich, nachdem er das Honorar für die Nutzung von Buckshaw erhalten hatte, in keiner Weise mehr verpflichtet. Oder schämte er sich zu sehr, um sein Gesicht zu zeigen?
    Die Filmleute legten letzte Hand an die improvisierte Bühne, richteten die Scheinwerfer ein und stellten in jede Ecke des angeblichen Hofes hohe Körbe mit echten Blumen.
    Es klingelte wieder.
    Ich zog mir den Pullover fest um die Schultern, öffnete die Tür und stand vor einem völlig Fremden. Er war in einen khakifarbenen Wintermantel gehüllt, auf dem zwar keine Rangabzeichen prangten, der aber mit ziemlicher Sicherheit aus den Beständen irgendeiner Armee stammte.
    Er war ziemlich klein, hatte Sommersprossen und kaute auf einem Kaugummi herum wie ein Pferd auf einem Apfel.
    »Ist das hier Buckshaw?«, fragte er.
    Ich bestätigte es ihm.
    »Ich bin Carl«, ließ er mich wissen. »Du kannst deiner großen Schwester ausrichten, dass ich hier bin.«
    Carl? Große Schwester?
    Aber ja doch! Das war Carl aus St. Louis, Missouri! Der Amerikaner Carl, der Feely den Kaugummi geschenkt hatte, den ich aus ihrer Wäscheschublade geklaut hatte! Carl, der ihr erzählt hatte, sie sei Elizabeth Taylor in Kleines Mädchen, großes Herz wie aus dem Gesicht geschnitten! Carl, der ihr beigebracht hatte, wie man Mississippi buchstabierte!
    Im Krieg hatten sich die Amerikaner den Flugplatz von Leathcote mit einer Spitfire-Staffel geteilt. Ähnlich wie Dieter waren nach Kriegsende auch einige Yankees in England geblieben. Carl gehörte offenbar dazu.
    Er hielt ein kleines Päckchen in der Hand, das von einem Dickicht aus grünem Zierband überwuchert und obendrein über und über mit rot-weißen Zuckerstangen behängt war.
    »Camel?«, fragte er und zog eine Packung Zigaretten hervor, die er geschickt wie ein Bühnenmagier mit dem Daumen aufklappte.
    »Nein, danke«, sagte ich. »Vater duldet nicht, dass im Haus geraucht wird.«
    »Ach so, das duldet er nicht, hm? Na, dann halte ich mich besser erst mal zurück. Sag Ophelia doch bitte, dass Carl Pendracka hier ist – und bereit zum Boogie-Woogie!«
    Hoppla!
    Dann schlenderte Carl an mir vorbei in die Halle.
    »Donnerwetter – schicke Bude. Hier wird wohl ein Film gedreht? Weißt du was? Ich hab mal Clark Gable getroffen, in St. Louis. Im Kaufhaus Spiegel. Und von Spiegel kommt auch das hier …«
    Er schwenkte sein Geschenk.
    »Hat meine Mutter ausgesucht und mir zusammen mit den Camels geschickt. Clark Gable hat mich damals bei Spiegel direkt angesehen. Was sagst du dazu?«
    »Ich sage meiner Schwester, dass Sie da sind«, antwortete ich. »Feely!«, rief ich an der Tür zum Salon. »Carl Pendracka ist da, und er ist bereit zum Boogie-Woogie.«
    Vater blickte von seinem British Philatelist auf.
    »Bitte ihn doch herein«, sagte er.
    Der kleine Kobold in mir grinste und konnte vor Vorfreude kaum an sich halten.
    Ich ging nur ans Ende des Flurs und winkte Carl mit gekrümmtem Zeigefinger heran.
    Er trabte folgsam herbei.
    »Echt schnieke!«, sagte er und fuhr anerkennend mit der Hand über die Holztäfelung.
    Ich hielt die Tür zum Salon auf und tat mein Bestes, Dogger in seiner Rolle als Butler nachzuahmen. Das erforderte einen Gesichtsausdruck und eine Haltung, die gleichzeitig äußerstes Entgegenkommen und äußerste Gleichgültigkeit ausdrückten.
    »Carl Pendracka«, meldete ich eine Spur zu ironisch.
    Feely hob den Kopf und ließ den Blick von ihrem eigenen Spiegelbild zu dem von Carl wandern, als dieser nun forsch auf unseren Vater zuschritt, dessen Hand nahm und sie ordentlich durchschüttelte.
    Obwohl Vater sich nichts anmerken ließ, sah ich, dass er höchst befremdet war.

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