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Vorhang auf für eine Leiche

Vorhang auf für eine Leiche

Titel: Vorhang auf für eine Leiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Bradley
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Sekunden, dann sagte ich: »Alles in Ordnung, Dogger. Sie sind weg. Ich habe sie weggeschickt. Alles ist gut.«
    Dogger zitterte, die Hände immer noch dicht vor dem Gesicht. Das Gesicht selbst war aschfahl, und er schaute mich mit leerem Blick an. Es war mehrere Monate her, vielleicht sogar schon ein halbes Jahr, seit er zuletzt eine solche ausgewachsene Angstattacke erleiden musste. Es würde eine ganze Weile dauern, bis er sich wieder davon erholt hatte.
    Ich trat ans Fenster und schaute durch einen Kranz aus Eisblumen hinaus. Unten standen die Lastwagen von Ilium Films im Schneegestöber. Eine dicke weiße Decke lag über ihnen, als hätte sie jemand am Ende des immer dunkler werdenden Tages für den Winterschlaf warm eingepackt.
    Hinter mir stieß Dogger ein erbärmliches Wimmern aus.
    »Stell dir mal vor, es schneit schon wieder«, sagte ich.
    Es war so still, dass ich glaubte, die Flocken fallen zu hören.
    »Eigentlich erstaunlich, dass bei so vielen Schneeflocken noch niemand ein Buch mit dem Titel Die Chemie des Schnees geschrieben hat!«
    Hinter mir herrschte Schweigen, aber ich drehte mich nicht um.
    »Stell dir nur alle diese Wasserstoff- und Sauerstoffatome vor, Dogger, wie sie sich an den Händen halten und Ringelreihen tanzen, um schließlich eine sechsseitige Schneeflocke zu bilden. Manchmal entstehen sie um ein Staubkorn herum – das hab ich im Lexikon gelesen –, und wenn das passiert, werden sie irgendwie missgebildet. Bucklige Schneeflocken! Stell dir das mal vor!«
    Hinter mir regte sich etwas, darum sprach ich weiter.
    »Stell dir die Billionen von Trillionen von Schneeflocken vor, die Billionen von Trillionen von Wasserstoff- und Sauerstoffmolekülen in jeder einzelnen. Da fragt man sich doch, wer die Gesetze für den Wind und den Regen aufgestellt hat, für den Schnee und den Tau! Ich hab schon versucht dahinterzukommen, aber davon schwirrt einem der Kopf.«
    Ich sah Doggers verdreifachtes Abbild im Schminkspiegel von Harriets Frisierkommode. Er stand unbeholfen auf und blieb mit schlaff herabhängenden Armen stehen.
    Erst jetzt wandte ich mich vom Fenster ab, nahm ihn bei der Hand und führte ihn zu Harriets zerwühltem Himmelbett.
    »Setz dich«, sagte ich. »Nur einen Augenblick.«
    Erstaunlicherweise gehorchte er und ließ sich auf die Bettkante sinken. Ich hatte erwartet, dass er sich schon bei dem Gedanken, sich in Harriets Schrein irgendwo hinzusetzen, heftig sträuben würde. Dass er es nicht tat, war ein Beweis für seine geistige Verwirrung.
    »Leg die Füße hoch«, wies ich ihn an und stapelte einen Berg schneeweißer Kissen in seinem Rücken auf. »Ich muss erst meine Gedanken sortieren.«
    Schwerfällig wie ein schmelzender Gletscher ließ Dogger sich zurücksinken, bis er endlich eine halbwegs bequeme Haltung eingenommen hatte.
    »Wir könnten es Hartes Wasser nennen«, sagte ich. »Das Buch, meine ich. Ja, das kommt wahrscheinlich besser an. Hartes Wasser  – das klingt richtig gut. Vermutlich würden es einige Leute kaufen, weil sie es für einen Krimi halten, aber das macht ja nichts. Uns wäre das egal, stimmt’s?«
    Aber Dogger schlief schon. Seine Brust hob und senkte sich sanft, und wenn die feine Kräuselung in seinem Mundwinkel nicht der Anflug eines Lächelns war, so doch immerhin ein Anzeichen für eine gewisse Entspannung.
    Ich deckte ihn bis zum Kinn mit einer leichten Wolldecke zu und kehrte ans Fenster zurück. Dort blieb ich eine halbe Ewigkeit stehen und schaute in die anbrechende Dämmerung hinaus, in die kalten, wirbelnden Welten aus Wasserstoff und Sauerstoff.

10
    U m halb sechs trafen die ersten Besucher aus Bishop’s Lacey ein. Die beiden Misses Puddock, Lavinia und Aurelia, die Besitzerinnen der St. Nicholas Teestube, waren die allerersten.
    Es war fast nicht zu glauben, aber die beiden alten Schachteln hatten die ganze Strecke zu Fuß zurückgelegt, und nun leuchteten ihre Gesichter rot wie kleine Brennöfen.
    »Wir wollten nicht zu spät kommen, deshalb haben wir uns frühzeitig auf den Weg gemacht.« Miss Lavinia schaute sich wohlwollend in der dekorierten Eingangshalle um. »Ganz schön protzig, findest du nicht auch, Aurelia?«
    Mir war klar, dass sie die Lage peilten und die Fühler nach einer Möglichkeit ausstreckten, für einen Beitrag auf die Bühne gebeten zu werden. Die Misses Puddock hatten es seit Anbeginn der Zeiten bisher noch jedes Mal geschafft, sich bei öffentlichen Aufführungen in Bishop’s Lacey in Szene zu setzen.

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