Vorhang auf für eine Leiche
Sogar Daffy nahm bei diesem Verstoß gegen die guten Manieren die Nase aus ihrem Buch.
»Carls Familie ist womöglich mit den Pendragons von König Artus verwandt«, sagte Feely mit der spröden, hochnäsigen Stimme, die sie immer bei Gesprächen über Familienstammbäume einsetzte.
Vater musste man zugutehalten, dass er nicht besonders beeindruckt schien.
»Fröhliche Weihnachten, Miss Ophelia de Luce«, sagte Carl und überreichte ihr sein Geschenk. Feely war sichtlich zwischen einer jahrhundertealten Tradition guter Kinderstube und dem Drang, das Geschenkpapier zu zerfetzen wie ein Löwe einen Christen im Kolosseum, hin- und hergerissen.
»Jetzt mach’s schon auf«, drängte sie Carl. »Es ist ja für dich.«
Vater tauchte rasch wieder in sein Briefmarkenjournal ab, wohingegen Daffy, die so tat, als wäre sie gerade an einer besonders ergreifenden Stelle von Bleak House, verstohlen unter zusammengezogenen Augenbrauen hervorspähte.
Feely zupfte so behutsam und betulich an den Schleifen und Bändern herum wie ein Naturkundler, der einen Schmetterling mit einer Pinzette unter dem Mikroskop zergliedert.
»Einfach aufreißen!«, hätte ich am liebsten gerufen. »Dafür sind Verpackungen da!«
»Ich möchte das wunderschöne Papier nicht kaputtmachen«, sagte sie affektiert.
Heiliger Bimbam! Ich hätte sie mit dem Geschenkband erwürgen können!
Carl ging es anscheinend genauso.
»Wart mal.« Er nahm Feely das Päckchen wieder weg und bohrte an den Kanten die Daumen in das Papier. »Das kommt den ganzen weiten Weg aus St. Louis, Missouri. Missouri – der schönste Staat von allen.«
Eine Zuckerstange fiel auf den Boden vor dem Kamin.
»Oh!«, rief Feely aus, als das Papier endlich kapitulierte. »Nylonstrümpfe! Wie hübsch! Wo hast du die denn aufgetrieben?«
Sogar Daffy hielt den Atem an. Nylonstrümpfe waren so selten wie Einhornfladen, der Heilige Gral aller Geschenke.
Vater schnellte in die Höhe, als hätte er auf einer Sprungfeder gesessen. Wie ein geölter Blitz durchquerte er das Zimmer, und im nächsten Augenblick baumelten die Strümpfe, die er Feely entrissen hatte, wie Nattern in seinen Händen und von seinen Unterarmen.
»Das ist wirklich unerhört, junger Mann! So etwas schickt sich ganz und gar nicht! Wie können Sie es wagen?«
Er fegte die Strümpfe von seinen Armen und warf sie ins Kaminfeuer.
Die Strümpfe schrumpften zusammen, krümmten sich in den Flammen und wurden kohlschwarz. Die Hitze zerlegte das Nylon in seine chemischen Bestandteile: Adipinsäure, das wusste ich, und Hexamethylendiamin. Als sie ihren Geist in einem letzten, köstlichen Aufflackern endgültig aufgaben, überlief mich ein wohliger Schauer. Ihr Todesatem, ein Hauch des tödlichen Giftgases Blausäure oder Cyanwasserstoff, stieg in den Schornstein empor und verflüchtigte sich. Im Handumdrehen war Carls Geschenk nur noch ein klebriger schwarzer Klumpen auf einem dicken Holzscheit.
»Ich … ich verstehe nicht recht …«, stammelte Carl.
Sein Blick wanderte von Vater zu Feely, dann zu Daffy und schließlich zu mir.
»Ihr Tommys habt echt ’ne Meise«, sagte er. »Totale Panne.«
»Totale Panne«, wiederholte Carl in der Halle noch einmal extra für mich und schüttelte ungläubig den Kopf. Feely war laut schluchzend auf ihr Zimmer geflohen, und Vater hatte sich in einer Gewitterwolke entrüsteter Rechtschaffenheit in sein Arbeitszimmer zurückgezogen.
»Setzen Sie sich einfach«, sagte ich und stellte Carl, weil es schon wieder klingelte, rasch den beiden Misses Puddock vor.
»Carl kommt aus St. Louis in Amerika«, erklärte ich, und noch ehe ich an der Tür war, redeten sie auch schon auf ihn ein, als wären sie schon ein Leben lang die besten Freunde gewesen.
Diesmal stand Ned Cropper auf der Schwelle, ein Geschenk in der Hand und Pomade im Haar. Hinter ihm stand Mary Stoker.
Abgesehen von ihrem rötlichen Teint und dem leichten Silberblick hätte Mary, wie sie da so strahlend im Schnee vor unserer Haustür stand, ohne Weiteres eine Madonna aus der Nationalgalerie sein können.
Kein Platz in der Herberge, dachte ich lieblos.
Doch ich begrüßte die beiden übertrieben fröhlich: »Ned! Mary!«
Ned bediente im Dreizehn Erpel, dem einzigen Gasthaus von Bishop’s Lacey, und Mary war die Tochter des Wirts. Ich war sofort im Bilde, dass Neds Geschenk für Feely bestimmt war: eine weitere Schachtel der ranzigen Vorkriegspralinen aus dem Schaufenster von Miss Cools Süßwarenladen, deren
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