Vorhang auf für eine Leiche
Inhalt mit hauchdünnem Schimmel überzogen war, den man natürlich abkratzen konnte – Süßigkeiten für Leute, die einen Pferdemagen besaßen.
Üblicherweise stellte Ned seine Liebesgaben bei Nacht und Nebel vor die Hintertür zur Küche, wo sie am Morgen von Mrs Mullet mit spitzen Fingern aufgehoben und hereingeholt wurden.
»Die Kater streichen mal wieder umher«, murmelte sie dann immer.
»Schöne Frisur«, sagte ich zu Mary. »Warst du beim Frisör?«
»Hab sie selber abgeschnitten, extra für Weihnachten«, flüsterte sie. »Gefällt’s dir wirklich?«
»Niemand wird Phyllis Wyvern eines zweiten Blickes würdigen«, versicherte ich und drückte ihren Arm.
»Ach, du schon wieder!«, lachte sie und schlug mir fester auf die Hand, als ihr bewusst war.
»Setzt euch irgendwohin«, sagte ich. »Ihr seid so früh, dass ihr euch die Plätze noch aussuchen könnt.«
Ich wusste, dass Ned sich in die erste Reihe und dort genau in die Mitte setzen würde, und ich behielt recht. Er wollte Phyllis Wyvern so nah wie nur irgend menschenmöglich sein.
Ein röhrender Motor kündigte Dieters Ankunft mit der ersten Ladung Zuschauer an. Ich riss die Tür auf und sah gerade noch, wie der Fergie ruckelnd zum Stehen kam. Seine Scheinwerfer malten Füllhörner aus dunstig gelbem Licht in den fallenden Schnee. An den Traktor angehängt war Harriets Schlitten, der vor Passagieren fast überquoll, wobei einige Männer aus dem Dorf sich sogar noch auf die Kufen gestellt hatten.
Ein Schatten glitt über mein Herz.
Wie traurig war doch der Gedanke, dass Harriet irgendwo in einem Schneetreiben wie diesem gestorben war. Wie war es möglich, dass sich inmitten solcher Schönheit eine derartige Tragödie ereignen konnte?
Aber so geht es einem nun mal mit Geistern: Sie tauchen zu den seltsamsten Zeiten und an den seltsamsten Orten auf.
Doch mir blieb nicht viel Zeit, mir das Gesicht meiner Mutter vor Augen zu rufen. Schon sprangen die Dorfbewohner vom Schlitten und stapften schwatzend und lachend in Richtung Haustür.
»Flavia! Haruh, mon vieux! Joyeux Noël! «
Das war Maximilian Brock, der zwergenhafte Konzertpianist im Ruhestand, der sein Klavier gegen eine Karriere als das größte Klatschmaul der ganzen Gegend eingetauscht hatte. Man munkelte (woran ich mich natürlich nicht beteiligte), dass er die nur leicht kaschierten Tratschgeschichten aus dem Dorf heimlich aufschrieb und als selbst Ausgedachtes an einen Verlag für Schundromane verkaufte.
»Lustblätter« nannte Daffy diese Machwerke.
»Hast du Phyllis Wyvern schon gesehen?«, wollte Max wissen. »Wie sieht sie denn in Wirklichkeit aus? Hat sie tatsächlich Falten wie Gebirgsschluchten, oder war das nur eine ausgemachte Gemeinheit des Reporters im Filmgeflüster? «
»Guten Tag, Max«, sagte ich. »Ja, ich habe sie schon gesehen, und sie ist hübscher denn je.«
»Und deine Schwestern, wie geht es denen? Wachsen und gedeihen sie noch?«
»Das können Sie sie selbst fragen«, erwiderte ich ein wenig ungeduldig. Wenn Max erst loslegte, konnte man gleich Wurzeln schlagen.
Aber noch ehe er eine weitere Frage formulieren konnte, wurde Max von einem mächtigen Bauch beiseitegedrängt. Der Bauch gehörte Bunny Spirling von Nautilus Old Hall, der Mr Pickwick so ähnlich sah, dass es mich eiskalt überlief.
Die Daumen in die Westentaschen gehakt, tätschelte sich Bunny den Wanst und reckte die rosigen Nasenlöcher in die Luft, als witterte er Bratenduft.
»Ach, Flavia«, sagte er beiläufig und trippelte auch schon mit verblüffend zierlichen Schrittchen an mir vorbei.
Als der Schlitten sich geleert hatte, fuhr Dieter eine enge Kurve, winkte mit der behandschuhten Hand und setzte sich mit einem Ruck wieder in Bewegung, um die nächste Ladung Zuschauer abzuholen.
Weil Dogger immer noch außer Gefecht war, hatte ich alle Hände voll damit zu tun, Neuankömmlinge zu begrüßen und mit alten Bekannten zu plaudern. Es war offenkundig, dass sich von meiner Familie sonst keiner zu zeigen gedachte. Mein Vater und meine Schwestern waren offenbar der Meinung, die Abendvorstellung sei ausschließlich Sache der Filmleute und ginge sie nichts an. Damit war ich auf mich allein gestellt.
Kurz vor Aufführungsbeginn erschien schnaufend und keuchend der Vikar und trat sich den Schnee von den Schuhen.
»Es macht herunter, als würden dort oben sämtliche Engel und Erzengel Geflügel rupfen«, sagte er.
Cynthia stand hinter ihm und zog ob dieser blasphemischen Bemerkung ein
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