Vorhang auf für eine Leiche
Würdigung der berühmten Stimme.
»Doch still, was schimmert durch das Fenster dort? «
Ein Klatschen hier und dort bewies, dass man mit den Zeilen vertraut war.
»Es ist der Ost und Julia die Sonne! –
Geh auf, du holde Sonn’! Ertöte Lunen … «
Nächste Pause. Er hob den Blick zu Julias Balkon empor, der außerhalb des Scheinwerferlichts noch in pechschwarzer Dunkelheit lag.
»Licht!«, kommandierte Phyllis Wyverns Stimme laut irgendwo über Romeos Kopf.
Der Augenblick gerann. Er schien sich ins Unendliche zu dehnen.
»Ertöte Lunen, die neidisch ist … «, fing Desmond Duncan wieder an, noch nicht wieder ganz Romeo.
Man hätte eine Stecknadel in China fallen hören können.
»Licht, verdammt noch mal!«, keifte die holde, noch unsichtbare Julia, und von hinten ertönte ein ohrenbetäubendes Scheppern, als wäre ein metallener Gegenstand auf den Fliesenboden gekracht.
»… ertöte Lunen «, deklamierte Desmond Duncan.
»Die neidisch ist und schon vor Grame bleich,
Dass du viel schöner bist, obwohl ihr dienend …«
Nun hörte man Phyllis Wyvern unter lautem Geraschel die Treppe herunterkommen. Erst erschienen ihre Füße in Romeos Scheinwerferkegel und dann ihr Kleid.
Ihr Kostüm war umwerfend – eine Kreation aus rehbrauner Seide mit weitem Rock und atemberaubend enger Taille – sowie schockierend tiefem Dekolleté. Die Edelsteine an Kragen und Ärmeln funkelten um die Wette, als sie sich durch den Lichtkreis bewegte, und das Publikum hielt angesichts der ungewohnten Pracht, die so plötzlich in seiner Mitte Gestalt angenommen hatte, staunend den Atem an.
In Julias geflochtenes Haar waren Blumen gesteckt – echte Blumen offenbar –, und auch ich war völlig hingerissen. Wie jung und wunderschön, wie zeitlos sie aussah!
Die echte Julia, falls es sie denn je gegeben hat, wäre vor Neid geplatzt.
Immer weiter stieg Phyllis die Treppe herab, bis sie endlich auf dem Boden der Halle stand, wo ihre spitzen Pantöffelchen bedrohlich über die Fliesen scharrten wie zwei Schlangen, die sich sozusagen auf Zehenspitzen dahinschlängelten.
Ned Cropper sank in sich zusammen, als sie an ihm vorüber und in Richtung Haustür rauschte.
Sie verlässt uns!, dachte ich unwillkürlich. Sie läuft davon!
Ich drehte mich um, als Phyllis Wyvern die Hand auf das Gerüst an der Tür legte, den grazil beschuhten Fuß auf die unterste Leitersprosse setzte und hinaufstieg.
Immer höher kletterte sie, wobei ihr Reifrock sogar noch im Dunkeln funkelte wie ein in den Himmel aufsteigender Komet.
Oben angekommen schob sie sich bis dorthin vor, wo Gil Crawford auf den Dielen stand und ihr Nahen mit offenem Mund verfolgte.
Phyllis Wyvern hielt sich mit einer Hand am Geländer fest, holte mit der anderen weit aus und verpasste Gil eine kräftige Ohrfeige.
Der Knall schallte kreuz und quer durch die Halle und weigerte sich zu verklingen.
Gil hielt sich die Wange, und in der Dunkelheit sah ich das Weiße seiner erschrocken aufgerissenen Augen.
Phyllis Wyvern lupfte ihren Reifrock und stieg mit erstaunlicher Anmut wieder vom Gerüst.
Ohne nach rechts oder links zu schauen, wandelte sie – anders kann man es nicht nennen, denn sie sah aus, als schritte sie feierlich durch den Mittelgang der Westminster Abbey – quer durch die Halle zur Westtreppe, die sie, den Reifrock immer noch angehoben, bis zum Absatz erklomm, wo sie sich umdrehte und am Geländer ihres »Balkons« wieder die vorherige Pose einnahm.
Nach einer spannenden Pause ging der zweite Scheinwerfer mit hörbarem Klack an und erfasste sie in seinem Kegel wie einen exotischen Nachtfalter.
Phyllis faltete die Hände vor der Brust, holte zitternd Atem und sprach ihre erste Zeile:
»Weh mir! «, sagte sie.
»Horch! Sie spricht! «, sagte Romeo.
»O sprich noch einmal, holder Engel! «, fuhr er ein wenig zögerlich fort.
»Denn über meinem Haupt erscheinest du
Der Nacht so glorreich wie ein Flügelbote
Des Himmels dem erstaunten, über sich
Gekehrten Aug’ der Menschensöhne, die
Sich rücklings werfen, um ihm nachzuschaun … «
Ich musste die ganze Zeit an Gil Crawfords Augen denken.
»O Romeo! «, gurrte sie. »Warum denn Romeo? «
Und so weiter und so fort. Die restliche Aufführung war der übliche abgestandene Herz-Schmerz-Scherz-Kitsch, ziemlich muffiges Zeug, wenn man mich fragt. Ich hätte mir gewünscht, sie hätten eine aufregendere Szene gewählt, eine von denen, in denen es um Toxikologie geht.
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