Vorhang auf für eine Leiche
um ihn herum, um einen Blick auf das Vorsatzblatt zu erhaschen.
Dort stand:
Eine
VORZÜGLICH
Ausgedachte Tragedie
VON Romeo und Iulia
Wie schon des öffteren (unter großem Beyfall)
Vor Publikum aufgeführet, von dem
Sehr Ehren-
Werten L. Hunsdon
Seinen Dienern
LONDON,
Gedruckt von Iohn Danter.
1597
Darüber prangte ein Monogramm. Die waagerechten Buchstaben waren mit roter, die senkrechten mit schwarzer Tinte geschrieben:
H
H & L
L
Mir stockte der Atem. Das waren Vaters und Harriets Initialen ineinander verschlungen – und das in ihren eigenen Handschriften!
Ich sah auf die Uhr auf dem Kaminsims. Der fünfminütige Waffenstillstand war um. Trotzdem legte ich Daffy den Arm um die Schulter und zog sie kurz an mich.
»Ich fürchte, Herr Inspektor«, sagte Desmond Duncan schließlich, »dass diese Ausgabe hier für unsere Zwecke nicht geeignet ist. Der Text weicht von dem ab, den ich üblicherweise auf der Bühne darbiete. Wir müssen uns wohl oder übel auf mein Gedächtnis verlassen.«
Damit schob er das Buch unauffällig in die Tasche seines Jacketts.
»Wenn das so ist«, erwiderte Inspektor Hewitt, als sei er froh, einen peinlichen Moment überstanden zu haben, »bedienen wir uns eben Mr Duncans zweifellos lückenloser Erinnerung an die Szene. Wir können sie ja später immer noch mit dem heute gewohnten Text des Stückes vergleichen. Einverstanden?«
Wir schauten einander an und nickten.
»Könntest du bitte unsere Zeitnehmerin sein, Daphne?« Der Inspektor streifte seine Armbanduhr ab.
Ich dachte, meine Schwester würde vor lauter Wichtigkeit in Ohnmacht fallen, aber sie nahm die Uhr wortlos entgegen, stieg auf ihren Sessel und hockte sich auf die Rückenlehne. Die Uhr ließ sie auf Armeslänge von ihrer Hand baumeln.
»Fertig?«, fragte der Inspektor.
Daffy und Desmond Duncan nickten knapp und feierlich. Sie waren zum Einsatz bereit.
»Los!«
Desmond Duncan hob an:
»Der Narben lacht, wer Wunden nie gefühlt.
Doch still, was schimmert durch das Fenster dort?
Es ist der Ost und Julia die Sonne!
Geh auf, du holde Sonn’! Ertöte Lunen,
Die neidisch ist und schon vor Grame bleich,
Dass du viel schöner bist, obwohl ihr dienend. «
Die Worte sprudelten aus seiner goldenen Kehle und purzelten vor Eifer schier übereinander, und doch war ein jedes von kristallener Klarheit.
»Weh mir! «, stöhnte Daffy plötzlich auf ihrem Hochsitz.
»Horch! Sie spricht! «, sagte Romeo mit dem Ausdruck echten Staunens im Gesicht.
»O sprich noch einmal, holder Engel! «, drängte er.
»Denn über meinem Haupt erscheinest du
Der Nacht so glorreich wie ein Flügelbote …«
Daffys Gesicht leuchtete auf einmal wie das Antlitz eines Engels auf einem Gemälde von van Eyck, und Desmond Duncan als Romeo schien von diesem Anblick ganz verzaubert.
»O, wie sie auf die Hand die Wange lehnt! «, fuhr er fort und schaute ihr innig in die Augen.
»Wär ich der Handschuh doch auf dieser Hand
Und küsste diese Wange!«
Lag es an mir, oder wurde es wirklich wärmer in der Bibliothek?
»O Romeo!«, flüsterte Daffy mit mir fremder, belegter Stimme. »Warum denn Romeo?«
Eine Spannung knisterte auf einmal zwischen den beiden, eine Spannung, die vorher nicht da gewesen und die wie aus dem Nichts entstanden war.
Um mich herum verschwamm alles. Ich erschauerte. Was ich sah und hörte, war reinste Magie.
Daffy war dreizehn. Die ideale Julia.
Und Romeo reagierte darauf.
Ich wagte kaum zu atmen, als sie nun Zärtlichkeiten austauschten, süß wie Honig. Es war, als belauschte man ein Liebespärchen im Dorf.
Auch Inspektor Hewitt lauschte gebannt. Ob er an seine Antigone dachte?
Daffy kannte die ganze Szene auswendig, als hätte sie die Verse an Tausenden Abenden einem verzückten Publikum im West End vorgetragen. War dieses holde Wesen wirklich meine unscheinbare Schwester?
»Nun gute Nacht!«, hauchte sie schließlich.
»So süß ist Trennungswehe,
Ich rief’ wohl gute Nacht, bis ich den Morgen sähe.«
Und Romeo erwiderte:
»Schlaf wohn’ auf deinem Aug’, Fried’ in der Brust!
O wär ich Fried und Schlaf und ruht’ in solcher Lust! «
»Zeit!«, verkündete Daffy unvermittelt und brach den Bann. Sie hielt die Armbanduhr in die Höhe. »Zehn Minuten, achtunddreißig Sekunden. Nicht schlecht.«
Desmond Duncan schaute sie an, ja, fast begaffte er sie staunend. Er öffnete die Lippen, als wollte er etwas sagen, doch in letzter Sekunde überlegte sein Mund es sich anders und sagte stattdessen:
»Das war
Weitere Kostenlose Bücher