Vorhang
mich braucht.«
Ich fand Poirot in Decken gehüllt auf der Terrasse. Er ermunterte mich, mitzufahren.
»Aber gewiss, Hastings, gehen Sie! Es ist, glaube ich, ein sehr hübscher Besitz. Sie sollten ihn sich unbedingt ansehen.«
»Das möchte ich auch. Ich wollte Sie nur nicht allein lassen.«
»Mein treuer Freund! Nein, nein, fahren Sie nur mit Sir William mit! Ein großartiger Mann, nicht wahr?«
»Erstklassig«, sagte ich begeistert.
Poirot lächelte. »Ich dachte mir, dass er Ihnen gefallen würde.«
Der Ausflug bereitete mir großes Vergnügen. Das Wetter war gut – ein richtig schöner Sommertag –, und ich genoss die Gesellschaft Boyd Carringtons.
Seine persönliche Ausstrahlung, seine Weltgewandtheit und reiche Lebenserfahrung machten ihn zu einem äußerst angenehmen Begleiter. Er erzählte mir Geschichten aus der Zeit seiner Tätigkeit in Indien, fesselnde Einzelheiten über ostafrikanische Stammesbräuche und vieles mehr, das mich so beeindruckte, dass ich darüber meine Sorgen um Judith und die Befürchtungen, die Poirots Enthüllungen in mir wachgerufen hatten, vergaß.
Mir gefiel auch die Art und Weise, in der Boyd Carrington von meinem Freund sprach. Er hatte große Achtung – sowohl vor seiner Arbeit wie vor seinem Charakter. Obwohl es um Poirots Gesundheitszustand traurig bestellt war, hörte ich von Boyd Carrington kein Wort billigen Mitleids. Er schien der Ansicht zu sein, dass ein Leben wie das Poirots seinen Lohn in sich selbst trage und dass mein Freund aus der Erinnerung Befriedigung und Selbstachtung schöpfen könne.
»Im Übrigen glaube ich, dass sein Gehirn noch so gut wie eh und je funktioniert«, sagte er.
»Ja, ganz gewiss«, stimmte ich eifrig zu.
»Es ist der größte Irrtum zu glauben, dass das Gehirn eines Mannes nicht mehr kann, weil seine Beine nicht mehr wollen. Weit gefehlt! Die Jahre, die man auf dem Buckel hat, machen dem Kopf weniger aus, als man denkt. Bei Gott, ich würde es nicht wagen, vor Hercule Poirots Nase einen Mord zu begehen!«
»Das würde ich Ihnen auch nicht raten. Er würde Sie bestimmt erwischen«, meinte ich lächelnd.
»Da können Sie Gift drauf nehmen! Wahrscheinlich eigne ich mich auch nicht besonders gut zum Mörder«, fügte er hinzu. »Es liegt mir nicht, Dinge im Voraus zu planen. Ich bin viel zu ungeduldig. Wenn ich einen Mord begehen würde, dann aus dem Augenblick heraus.«
»Das sind vielleicht die Verbrechen, die am schwersten aufzudecken sind.«
»Ich weiß nicht. Vermutlich würde ich überall Spuren hinterlassen. Glücklicherweise habe ich keinerlei verbrecherische Neigung. Höchstens einen Erpresser – den könnte ich vielleicht umbringen. Ich finde Erpressung widerlich. Meiner Ansicht nach sollte man einen Erpresser glatt erschießen. Was meinen Sie?«
Ich äußerte eine gewisse Sympathie für diesen Standpunkt.
Dann trat ein junger Architekt zu uns, und wir begannen, die Renovierungsarbeiten am Haus zu begutachten.
Knatton stammte hauptsächlich aus der Tudorzeit, ein Flügel war später angebaut worden. Abgesehen vom Einbau zweier primitiver Badezimmer Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war das Gebäude völlig unverändert geblieben.
Boyd Carrington erklärte, dass sein Onkel ein menschenscheuer Einsiedler gewesen sei, der zurückgezogen in einem Winkel des großen Hauses gelebt habe. Sir Everard hatte, bevor er sich ganz von den Menschen abwandte, Boyd Carrington und seinen Bruder in den Schulferien auf Knatton geduldet.
Der alte Mann hatte nie geheiratet und nur ein Zehntel seines großen Einkommens ausgegeben, sodass der jetzige Baronet nach dem Tod seines Onkels plötzlich ein reicher Mann war.
»Aber auch ein sehr einsamer Mann«, sagte er seufzend.
Ich schwieg. Mein Mitgefühl war zu groß, um es in Worte zu fassen. Auch ich war schließlich einsam. Seit Cinders’ Tod fühlte ich mich nur noch als halber Mensch.
Dann äußerte ich doch stockend einige meiner Empfindungen.
»Ach ja, Hastings, aber Sie haben etwas besessen, das mir nie zuteilgeworden ist.«
Er schwieg einen Augenblick und erzählte mir dann in abgerissenen Sätzen sein Schicksal.
Er erzählte von seiner schönen, jungen Frau, einem bezaubernden Geschöpf voll Charme und Bildung, doch mit einem verhängnisvollen Erbe. In ihrer Familie waren fast alle an Trunksucht gestorben, und auch sie fiel dem gleichen Laster zum Opfer. Kaum ein Jahr nach ihrer Eheschließung hatte sie sich dem Trunk ergeben und war daran gestorben. Er trug ihr nichts
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